Es war im vergangenen Mai, als Carolin Schreibers* Tochter verschwand. Schreiber wollte das Kind, damals 21 Monate alt, aus ihrer Kita abholen, doch niemand wusste, wo die Kleine zu suchen sei; von der Abholliste hatte man sie bereits gestrichen. Eine halbe Stunde - für die Mutter eine kleine Ewigkeit - verging, bis Schreiber ihre Tochter schließlich im Gebüsch fand. Verdreckt und ängstlich, zusammen mit zwei Vorschuljungs, die das Mädchen getröstet hatten. Ein anderes Mal habe sie ihre Tochter unbeaufsichtigt auf einer Stahltreppe in Höhe des zweiten Stockwerks gefunden, sagt Schreiber, die immer noch fassungslos an diese Zeit zurückdenkt. Probleme, mit denen sie in dieser Kita nicht gerechnet hätte: Hübscher Garten, helle, moderne Räume, zentrale Kiezlage im gutbürgerlichen Mitte - die Kita schien eine gute Adresse zu sein. Wie es um den Ruf der Einrichtung bestellt ist, habe sie erst später erfahren.
Kitabetreuung ist gefragt wie nie. Allein in Berlin sind seit 2012 mehr als 20.000 Kindergartenplätze entstanden. Doch längst wächst die Nachfrage schneller als das Angebot: Allein im Kita- und Schuljahr 2016/17 müssen über 1.300 Fachkräfte gewonnen werden. Ein Platz in renommierten oder nahe dem Wohnort gelegenen Einrichtungen ist so begehrt, dass sich sogar Agenturen darauf spezialisiert haben, Eltern an die gewünschten Stellen zu vermitteln. Und alles deutet darauf hin, dass der Bedarf in den nächsten Jahren weiter steigen wird. Dafür sorgt sowohl der Zuzug im Allgemeinen als auch die Migration aus Krisengebieten - vor allem jedoch die kostenlose Kitabetreuung für alle Kinder, die Raed Saleh, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, in diesem Jahr durchgesetzt hat.
Nicht nur in Berlin ist der Erziehermangel ein Politikum. Im Jahr 2007 legte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen mit der Verabschiedung des U3-Gesetzes, das auch Kindern unter drei Jahren einen Kitaplatz garantiert, den Grundstein für den Boom einer gesamten Branche. Um die Kapazitäten entsprechend aufzustocken, haben Bund, Länder und Kommunen ihre Ausgaben für die Kinderbetreuung in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Doch bei diesem raschen Ausbau gleichzeitig die Qualität der Kinderbetreuung hochzuhalten, fällt vielen Trägern und Kitaleitern schwer.
Im Mai hatte ZEIT ONLINE seine Leser zu Missständen in Kitas befragt. Mehr als 2.000 Eltern aus ganz Deutschland antworteten. ZEIT ONLINE hat von einigen Berliner Teilnehmern das Einverständnis bekommen, ihre Erfahrungsberichte der ZITTY zur Verfügung zu stellen - und diese offenbaren Probleme im kleinen, heilen Mikrokosmos. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, doch sie erzählen von den Schwierigkeiten in einer Branche, deren Währung das Vertrauen der Eltern ist. In einer Lichtenberger Kita werden weinende Kinder nicht getröstet, sondern müssen an einem ihnen zugewiesenen Platz warten, bis sie sich beruhigt haben. Eine Mutter berichtete, in ihrer Kita in Pankow seien bereits zwei Kinder durch eine Eingangstür ohne Kindersicherung weggelaufen und von einer Passantin zurückgebracht worden. Auch in anderen Häusern in der gesamten Stadt - von Prenzlauer Berg über Wedding bis Charlottenburg - seien ein grober Umgangston und ständig wechselndes Personal an der Tagesordnung. Der Tenor der Befragten: Während man die Jüngsten in vielen Berliner Einrichtungen fürsorglich betreut, dominiere andernorts Lieblosigkeit und Überforderung.
Von solchen Zuständen erzählt auch Anja Tietze*, deren Kind in derselben Einrichtung wie Carolin Schreibers Tochter untergebracht war. Als Tietze - hochschwanger mit ihrem zweiten Kind - vor der Bürotür des Kitaleiters wartete, habe sie Geschrei gehört. „Ich ging nach nebenan und sah, dass eine Erzieherin sich über ein kleines Kind beugte und es anbrüllte", sagt Tietze. Perplex habe sie den Raum verlassen, dann jedoch beschlossen, es dabei nicht bewenden zu lassen: So sollte ihr Kind nicht angeschrien werden. In diesen zehn Minuten, glaubt Tietze, müssen sich die Erzieherinnen abgesprochen haben - denn dann hätten alle Anwesenden behauptet, niemand habe gebrüllt. „Nicht nur, dass das offensichtlich nicht stimmte", sagt Tietze. „Mir unterstellte man, wegen der Schwangerschaft verwirrt und übermäßig emotional zu sein." Die Kitaleitung habe ihr, angesprochen auf den Vorfall, nicht glauben wollen. Tietze kündigte.
Die Vorwürfe, die sie heute erhebt, wiegen schwer: In der ehemaligen Kita ihrer Tochter behandele man Kinder wie eine Ware, Betreuung sei eine Dienstleistung. Schon nach wenigen Wochen habe sie festgestellt, dass in der Kita immer wieder Zeitarbeitskräfte eingesetzt würden - „und zwar nicht, weil Erzieher krank geworden sind, sondern wegen Missplanung", sagt sie. „In sechs Wochen habe ich in der Kita vier verschiedene Zeitarbeiter getroffen - wie soll sich ein Kind so eingewöhnen?" Außerdem seien oft nur „Bufdis" - also Bundesfreiwilligendienstleistende, keine ausgebildeten Erzieher - vor Ort gewesen, wenn sich die Kinder im Garten aufhielten.
Von der ZITTY mit den Vorwürfen konfrontiert, lädt die Kitaleitung zu einem Gespräch mit Träger- und Elternvertretern. Die Beteiligten wollen sich erklären. Man gibt zu: Die Situation auf der Feuertreppe, die Carolin Schreiber schildert - so etwas dürfe nicht passieren. Auch das Verschwinden des Kindes räumt die Kitaleitung ein, betont jedoch, die Mutter habe zunächst keine der Erzieherinnen in die Suche einbezogen. Den Vorwurf, eine Mitarbeiterin hätte ein Kind angeschrien und eine schwangere Mutter diffamiert, bestreitet man allerdings vehement - ebenso die Anschuldigung, man habe Kinder ohne pädagogisch geschultes Personal alleingelassen.
Ein Konflikt, der ein grundsätzliches Problem offenbart: Was hinter den Kulissen der bunten Kitawelt geschieht, ist schwer zu prüfen. Denn meist sind die betreuten Kinder zu jung, um aussagefähig über kritische Situationen zu sein. Viele Eltern scheuen sich - trotz berechtigter Bedenken, trotz des Wissens um schwarze Schafe und Sorgen um ihre Kinder - vor Beschwerden, weil sie nicht als Helikoptermütter oder -väter gelten wollen; Erzieher wiederum betonen, sie seien auf den Dialog mit den Eltern angewiesen. Auf beiden Seiten herrscht Leidensdruck - Verlierer sind die Kinder.
Viele Verstimmungen, so heißt es im Gespräch, resultierten auch daraus, dass Eltern nur einen Teil des Geschehens mitbekämen. Zeitarbeiter etwa stelle man nicht ein, um Geld zu sparen - sondern weil der Markt leer sei. „Der Fachkräftemangel ist unser größtes Problem", heißt es seitens der Kitaleitung. „Die Politik sagt uns, dass die Betreuungsschlüssel erhöht werden. Aber sie sagt nicht, wo wir das Personal herbekommen sollen. Und dann kommen die Beschwerden von Seiten der Eltern, wir beschäftigen Zeitarbeitskräfte. Dabei sei gesagt, dass viele von diesen Mitarbeitern ein wichtiger Teil unseres Teams sind - und einen guten Job machen."
Kosten lassen will man sich dieses Ziel einiges: Bis zum Jahr 2020 seien für Gebührenbefreiung, Ausbau und Qualitätssicherung zusätzliche Ausgaben von über 750 Millionen Euro eingeplant, die größtenteils das Land Berlin aufbringen wird. Für den Kita-Ausbau wolle man jedoch auch Bundesmittel verwenden. Insgesamt, so betont Scheeres, fließe jedoch mehr Geld in die Qualitätsverbesserung als in die Gebührenfreiheit.
Warum beginnt man nicht mit der Qualitätssicherung, indem man die Tarife für die Erzieher verbessert? Die Bezahlung der Erzieherinnen und Erzieher richtet sich im Stadtstaat Berlin nach dem Tarifvertrag der Länder, der auf Ebene der Bundesländer verhandelt wird, heißt es dazu aus der Senatsverwaltung. Berlin sei hier arbeitgeberseitig also eine von 16 Stimmen. Bislang habe eine Besserstellung der Erzieher in der Tarifgemeinschaft keine Mehrheit gefunden. „Der neue Senat wird sich in den kommenden Tarifverhandlungen aber dafür stark machen, dass sich hier endlich etwas bewegt - und wir wissen die Gewerkschaften hier auf unserer Seite", sagt Scheeres. Die Probleme, so zeigt das Lohnbeispiel, reichen bis auf die Bundesebene.
Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Bis heute gibt es kein Kita-Qualitätsgesetz mit bundesweiten Standards. Zwar sind alle Kitas per Gesetz verpflichtet, ein Kinderschutzkonzept zu erarbeiten und sich daran zu orientieren - doch ist nicht bekannt, wie viele Einrichtungen diese Vorgabe wirklich umgesetzt haben. Neben den strukturellen Problemen findet in vielen Berliner Kitas findet noch immer ein kleiner Kulturkampf statt. Gerade in Ost-Berliner Stadtteilen wie Prenzlauer Berg treffen oftmals ältere Erzieher, die in der DDR mit Kollektivstrafe, Essenszwang und Töpfchentraining groß geworden sind, auf Bürgerkinder von Zugezogenen aus dem Westen. Ein Vater erzählt diese Anekdote aus seiner Kita in Prenzlauer Berg: So hätten Erzieher auf einem Spielplatz zwei Jungs zurechtgewiesen, die ein paar Meter von der Gruppe ihre Pausenbrot essen wollten. „Ihr kommt jetzt sofort her zur Gruppe", habe eine Erzieherin gerufen, um sich dann an die anderen Kinder zu richten: „Und Ihr sagt den beiden, was sie falsch gemacht haben."
Allein: Völlig frei von Kontrolle können Kitas auch ohne bundesweites Gesetz nicht agieren. Viele Träger in Berlin versuchen längst, die Betreuungsqualität hoch zu halten, vereinbaren einen verbindlichen Verhaltenskodex und versuchen, das Beschwerdemanagement zu verbessern. Als vorbildlich auf diesem Gebiet gelten etwa die Kitas der Hanna gGmbH, einer gemeinnützige Organisation, deren Kitas regelmäßig zur Kinderschutz-AG laden.
Verpflichtend für alle öffentlich geförderten Kita-Träger in Berlin ist außerdem die sogenannte Externe Evaluation: Alle fünf Jahre schaut ein vom Senat anerkannter Prüfer vorbei, um die pädagogische Güte der Einrichtung zu beurteilen. Pikanterweise müssen die Einrichtungen diese verordnete Evaluation selbst bezahlen. Doch das ist nicht das größte Problem: Die Qualitätssicherung findet in der Regel zu einem vorher abgestimmten Termin statt - und dann „ist an diesem Tag natürlich alles Friede, Freude, Eierkuchen", sagt Christiane Weisshoff, die den Vorstandsbereich Kinder-, Jugendhilfe, Sozialarbeit bei der GEW leitet. Seit Jahren fordert ihre Gewerkschaft sowohl ein bundeseinheitliches Qualitätsgesetz als auch bessere Tarife für Erzieher. „Viele Erzieher frustriert die strukturelle Überforderung", sagt Weishoff. Und da liegen die Nerven auf allen Seiten schnell blank: Viele Träger, so Weishoff, werten Beschwerden als persönlichen Angriff. Dabei sei Elternfeedback dringend nötig, um die Qualität garantieren zu können.
Carolin Schreiber und Anja Tietze sind mit ihren Kindern mittlerweile in andere Kitas umgezogen - und wesentlich zufriedener. Schreiber habe endlich das familiäre Umfeld gefunden, das sie sich für ihre Tochter immer gewünscht hat. Das Vertrauen in die Institution Kita jedoch, das sagen beide Frauen, habe durch die Geschehnisse einen Knacks bekommen.
Text: Cosima Grohmann und Julia Lorenz,Fotos: Anthea F. Schaap; Alle Bilder sind in der Kita „Paule im Park" in Lichtenberg entstanden. Wir danken dem Träger Hanna für Unterstützung
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