Ein Satz ohne Ende - „es war ihr schwergefallen, auf so viel Geschichte zu schlafen" - und ohne Anfang. Er steht in Bernardine Evaristos ohne Punkte auskommenden Roman „Mädchen, Frau etc.", der 2019 den Booker-Preis gewann und nun als erstes von Evaristos Büchern auf Deutsch erscheint. Grace, die Frau mit den Schlafproblemen und eine von zwölf Hauptfiguren, lebt in den 1920er Jahren im Norden Englands. Sie ist dankbar, dass ihrem Mann ihre Hautfarbe egal zu sein scheint. In seiner Bekundung, sie sei „seine Expedition nach Afrika", hört sie nur Bettgeflüster.
Nach der Hochzeit schlafen die Eheleute eine Weile auf einer Matratze, die sich schon im Besitz von Grace' Schwiegergroßeltern befunden hat. Der oben zitierte Satz fällt, als eine neue Matratze den Muff der Vergangenheit verdrängen soll. Grace weiß nicht, dass ihre Schwiegerfamilie einst „Menschen aus Afrika in der Karibik gegen Zucker eintauschte", ihr Unbehagen ist Körperekel.
Auch auf geschichtsbefreiter Bettung wird das Paar nicht glücklich. Er will einen Sohn. Sie zerbricht an ihrem „Körper, der nur Tod gebar". Dann eine Tochter, Hattie, die überlebt. Diese hat das Familiengeheimnis im vorigen Kapitel wiederum erst als betagte Frau gelüftet - und ein weiteres für sich behalten. Mit 14 hat die jetzt 93-jährige Hattie eine Tochter geboren, die sie auf den Druck ihrer Eltern zur Adoption freigeben musste. In einem anderen Kapitel wird diese Geschichte erzählt, aus der Perspektive von Hatties Tochter, Grace' Enkelin. (...)
Bernardine Evaristo: "Mädchen, Frau etc." Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen Verlag, Stuttgart 2021. 512 S., 25 €.
Tagesspiegel, 24. Januar 2021.
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