Der Sommer leuchtet, weil er Sommer ist. Der Herbst leuchtet, obwohl er Herbst ist. Ist die Sommersonne schöner oder das Herbstlicht? Die Frage stellt sich eigentlich nicht in der grundmelancholischen Affektenlehre des Indiefolk, zumal in einer Zeit, in der amerikanische Kunst fast immer „trotzdem" schön ist. Virus, Waldbrand, Rassismus, Trump - und dann dieses kleine Wunder von Album, das mit seinem idyllischen Cover demonstrativ seelenruhig daherkommt?
Die Sehnsucht nach Balance, nach einer heilen Natur, die die Gezeiten vorgibt, durchzieht das vierte Album der Fleet Foxes. „Shore" ist ohne große Ankündigung am 22. September zum kalendarischen Herbstanfang erschienen, wobei Robin Pecknold - die Alben der Band sind im Grunde Soloprojekte ihres Sängers und Songschreibers - in einer Handreichung feierlich „autumnal equinox" schreibt: das zweite der beiden Daten im Jahr, an dem Tag und Nacht gleichlang sind.
„Summer all over, blame it on timing" lautet auch die erste Zeile, mit gefasster Wärme vorgetragen von der bislang unbekannten Sängerin Uwade Akhere („Wading in Waist-High Water"). In Pecknolds lyrisch-anspruchsvollen Texten lebt der Mensch in der Witterung, wandert „some lost coast" entlang („For a Week or Two"), existiert im „ocean of time" („Young Man's Game"), stapft durch „passing rain, blue white heat" („Cradling Mother, Cradling Woman"). Überhaupt fällt viel Regen, aber nicht gegen Fensterscheiben. In seinen Bildern ist „Shore" ein rurales und maritimes Album, eine Stadtflucht aus dem für seine Menschendichte abgestraften New York, wo Pecknold lebt. (...)
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 2020.