Téa Obreht ist landein- und westwärts gezogen. Fort von den New Yorker Menschenmengen, die in Zeiten der Pandemie zum Risiko geworden sind, hinein ins amerikanische Herzland, nach dem ihr neuer Roman benannt ist. Quarantänehalber haben sie und ihr Mann sich in die Abgeschiedenheit ihres Zweitwohnsitzes in Wyoming zurückgezogen, dem bevölkerungsärmsten amerikanischen Bundesstaat. Per Videoanruf erreicht man sie nahe dem Zehntausend-Einwohner-Städtchen Jackson, südlich des Yellowstone-Nationalparks. „Am Rande einer riesigen Wildnis", sagt Obreht und dreht die Kamera zum Fenster, durch das der Blick auf schneebedeckte Berge fällt. Sie erzählt von einer Berglöwin, die kürzlich tagelang auf einer nahen Anhöhe gethront habe. Nach dem Gespräch schickt sie noch ein Handyfoto, das Hunderte im Tal überwinternde Elche zeigt.
Wer Obrehts ersten Roman gelesen hat, weiß um die Zentralität der Beziehung zwischen Mensch und Tier in ihren Geschichten. Als „The Tiger's Wife" (deutsch „Die Tigerfrau") 2011 erschien, wurde Obreht als magisch-realistische Erbin von Gabriel García Márquez gefeiert, das Buch verkaufte sich 1,7 Millionen Mal. Eine junge Ärztin aus einem kriegsversehrten Balkanstaat erinnert sich darin an ihren Großvater, dessen Kindheitsdorf von einem Tiger belagert wird, der sich angeblich nachts in einen Mann verwandelt und mit einer Dorfbewohnerin zusammenlebt. Seitdem hat Obreht zwei Romane für die Schublade geschrieben, der dritte aber liegt nun in Bernhard Robbens kunstfertiger Übersetzung vor. Auch „Herzland" lebt von seinen Tieren.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zog durch den amerikanischen Südwesten eine Kavallerie, die keine war. Die Legende vom „Red Ghost" erzählt von einem riesigen Geisterpferd mit zotteligem roten Fell, in dessen Sattel eine Leiche hängt. Verängstigt berichten die Siedler des spärlich bewohnten Arizona Territory einander von ihren Begegnungen mit dem Untier - bis einer sich ein Herz fasst und es erlegt. Dann stellt er fest: Das Pferd war ein Kamel. (...)
Téa Obreht: „Herzland". Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 512 S., geb., 24,- € .
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 2020.