Für das Gespräch mit dem Mann, der alles über digitale Spiele weiß, suchten wir einen besonders ruhigen Ort auf. Die Bar am Rooftop-Pool des Berliner Soho House war leer und verlassen, wie es sich für einen kalten Nachmittag im März gehört. Kaum hatten wir das Tonbandgerät eingeschaltet, verwandelte sich die Stille allerdings in die Geräuschkulisse eines Ballerspiels: Armeen von Kellnern, Lieferanten und Reinigungskräften überfielen uns, schrien und lachten, ließen Gläser klirren, Möbel krachen und Kaffeemaschinen zischen. Manchmal wirkte es so, als wollten sie die Aussagen des Professors kommentieren oder unterstreichen.
ZEIT Wissen: Professor Freyermuth, Sie haben Literaturwissenschaft studiert, waren Journalist, haben Romane verfasst - wie kommt ausgerechnet ein Schreiber wie Sie dazu, digitale Spiele zu erforschen?
Gundolf S. Freyermuth: Ich habe mich schon im Studium sehr intensiv mit Theater, Film und Fernsehen beschäftigt - und mit text adventures, diesen rein schriftbasierten digitalen Spielen, die es Ende der 1970er-Jahre gab. 1984 habe ich mir dann meinen ersten Macintosh-Computer gekauft, da war ich Reporter beim stern. Und Sie kennen das ja, manchmal muss der Autor schreiben und will nicht. Ich habe damals stundenlang ein Puzzle-Spiel gespielt, das auf dem Computer installiert war, während die Redaktion des sterns anrief, wann die Artikel fertig würden. Das Puzzle wurde irgendwann langweilig, und ich habe mir Letter Invaders geholt, da musste man passenderweise Buchstaben abschießen. In meinem ersten Roman, der 1989 erschien, war der Protagonist dann ein arbeitsloser Programmierer, der ebendieses Letter Invaders spielte.
ZEIT Wissen: Das waren im Vergleich zu heute noch primitive Spiele.
Freyermuth: Ja, dieses Puzzle-Spiel oder Letter Invaders, das waren Spiele, die analogen Brettspielen oder Geschicklichkeitsspielen Konkurrenz machten. Die erzählten keine großen Geschichten und hatten keine großartigen Bilder. Aber in den Neunzigerjahren geschah dann etwas: Digitale Spiele verwandelten sich in ein audiovisuelles Medium. Damit wurden sie zu Konkurrenten für Film und Fernsehen. Und das weckte mein Interesse.
ZEIT Wissen: Inwieweit lassen sich denn Filme und Videospiele miteinander vergleichen?
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Freyermuth: Sie werden einander von der Optik her immer ähnlicher, aber die Mechanismen, die dahinterstecken, könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Kern des Films ist das Einfangen und Speichern von Bewegung der äußeren Welt. Digitale Spiele dagegen erschaffen dynamische Modelle unserer Welt. Alles begann mit der Erforschung künstlicher Intelligenz in den Fünfzigerjahren. Man wollte das Konzept der Maschinenintelligenz, wie es damals noch hieß, beweisen, indem man Computerprogrammen beibrachte, besser Schach zu spielen als ein Mensch. Man baute erstmals ein realweltliches System als Software nach. Das ist das Prinzip digitaler Spiele, ob das System nun Schach ist oder der Wilde Westen im Videospiel Red Dead Redemption. Die Welt wird nicht bloß eingefangen, sondern es wird in Echtzeit eine eigene Welt produziert.
ZEIT Wissen: In Romanen und Filmen werde ich Zeuge einer Geschichte, die schon passiert ist. Im Spiel findet das Schicksal gerade erst statt.
Freyermuth: Ich bin sogar Teil des Schicksals, denn als Spieler befinde ich mich ja mittendrin im Spielsystem und interagiere mit ihm. Filme sind der Blick durch ein Fenster in eine andere Welt, die da draußen vorbeiläuft. Ob das Fenster nun mein Smartphone ist oder die Kinoleinwand. Games bieten Bildräume an, in die ich eintrete. Deshalb ist das digitale Spiel ein raumbasiertes Medium. Der Film dagegen ist zeitbasiert, weil sich hier durch Rückblenden, durch Beschleunigen und durch Schneiden die Zeit viel besser manipulieren lässt als zuvor im Theater. Da hatte man nur den Vorhang. Filme faszinierten mich schon lange. Für digitale Spiele begann ich mich erst wirklich zu interessieren, als sie zu einem Medium wurden, das audiovisuelle Geschichten erlebbar macht. Das war in den Neunzigerjahren, als auch meine Söhne geboren wurden. Bald verbrachten sie viel Zeit mit Computerspielen. Ich habe damals diese neue Sorte von Spielen zusammen mit ihnen entdeckt.
ZEIT Wissen: Ist aus diesen dauerspielenden Kindern etwas geworden?
Freyermuth: Für meinen Geschmack sind sie fast zu ernst und pflichtbewusst geworden. Der eine wird Jurist, der andere Ökonom. Das Spielen hat ihnen also nicht geschadet, vielleicht sogar im Gegenteil: Mit fünf schlug der Jüngere irgendwann mit der Faust auf den Tisch und sagte, ihr müsst mir jetzt endlich Lesen beibringen. Er wollte die Videospiele spielen, die der Ältere spielte. Und da gab es nun mal viel Text, den man lesen können musste.
ZEIT Wissen: Was sagen Sie Eltern, die sich Sorgen machen, weil ihre Kinder ganze Tage vor dem Computer verbringen?
Freyermuth: Dass schon Eltern im 18. Jahrhundert besorgt waren, weil ihre Kinder den ganzen Tag gelesen haben, statt etwas Nützliches zu tun. Diese Furcht, dass sich die Leute und vor allem Kinder in Fiktionen verlieren, ist so alt wie die Medien selbst. Es ist bei bestimmten Spielen aber auch durchaus schwer, ein Ende zu finden. Online-Spiele wie World of Warcraft sind endlose Welten, und die Entwickler versuchen natürlich auch alles, um die Spieler bei der Stange zu halten. Aber es gab schon vorher Medien, die nie aufhörten: Radio und Fernsehen. Da herrschte auch die Angst, dass die Leute nur noch vor dem Fernseher dahinvegetieren könnten, als Couch-Potatoes.