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Review

9 SONGS

Mit einem Team aus nur drei Personen und einer DV-Kamera, Minibudget und ohne Drehbuch realisierte Michael Winterbottom den vermutlich sexuell explizitesten Film eines etablierten britischen Regisseurs: In mit großer Sensibilität beobachteten realistischen Szenen lässt Winterbottom den Sex zwischen seinen improvisierenden Schauspielern nicht simulieren und beobachtet diesen aus nächster Nähe 65 Minuten lang im Wechsel mit Auftritten hipper Gitarrenrockbands in Londoner Konzerthallen.




“Was ist falsch daran, Sex im Kino zu zeigen?” fragte sich Michael Winterbottom und drehte einen Film, der sich genau darauf, auf das Zeigen von Sex, konzentriert. Die britische Yellowpress verlieh dem filmischen Experiment prompt das Prädikat “schmutzigster Film aller Zeiten”, wobei “Nine Songs” jedoch nicht schmutziger ist als Sex zwischen Verliebten sein kann und Winterbottoms Blick natürlich mitnichten an Pornographie interessiert ist. Tatsache ist, dass er die im Vordergrund stehenden Sexszenen nicht simulieren, sondern von seinen beeindruckend intensiv und natürlich agierenden Schauspielern, Newcomerin Margo Stilley und Kieran O’Brian aus “24 Hour Party People”, unter authentischen Bedingungen improvisieren lässt und in expliziten Nahaufnahmen filmt. Sex wird zur Metapher für die Beziehung des Paares - und Winterbottoms wie immer höchst sensibles Gespür entdeckt in dem körperlichen Verhältnis verschiedene Stadien der Beziehung. Dazwischen spiegeln sich diese in den Besuchen von Konzerten angesagter britischer Acts wie Franz Ferdinand, Black Rebel Motorcycle Club, Super Furry Animals, Dandy Warhols und Primal Scream sowie Winterbottoms Haus- und Hofkomponist Michael Nyman wider. 

Das Experiment beginnt mit dem Moment, in dem sich Hauptdarsteller und Erzähler, der britische Kälteforscher Matt, bei einem Flug über die Antarktis an sein erstes Treffen mit Lisa erinnert. Die Bilder ihres ersten gemeinsamen Konzertbesuchs werden im Wechsel mit dem Sex danach in Matts Wohnung geschnitten. Bei diesem wie bei den darauf folgenden Treffen gibt es kaum Dialog, abgesehen von flüchtigen Gesprächen im Badezimmer, beim Essen, im Bett. Man erfährt nichts weiter über den Background der Figuren als Matts Job und Lisas Nationalität, dass sie viele Lover aus vielen Ländern hatte und nur für eine kurze Weile in England bleiben wird. Matt beschreibt sie einmal im Off-Kommentar als “21 - schön, egoistisch, sorglos und verrückt”. In der Mitte des Films unternehmen beide einen Kurztrip ans Meer, Matt badet nackt, macht Lisa ein Liebesgeständnis. Zurück in London zeigt die Beziehung Risse, es gibt einen ersten und einzigen Streit, eine Versöhnung, die Trennung, als Lisa in die Staaten zurückkehrt - simpel, pragmatisch, berührend. 

Ganz langsam nähert sich der Regisseur, der hier erstmals auch selbst schnitt, den nie redundanten, mit ständig wechselndem Licht und aus wechselnder Perspektive mit der Handkamera gefilmten Szenen und tastet sich wie seine Protagonisten an immer kompromisslosere Einstellungen heran, zeigt die Partner in ihren intimsten Momenten und schafft eine erstaunliche Nähe zu den eigentlich anonymen Figuren. 

Falsch ist an den hier gezeigten Sexszenen jedenfalls gar nichts - interessant ist allemal, wie Winterbottom seinen Film, der von den Voraussetzungen her pornographischer Natur ist, vielmehr auf eine poetische als voyeuristische Ebene bringt. Experiment gelungen - wobei vermutlich Altersfreigabe und Filmlänge die Auswertung selbst im Arthousesektor erschweren dürften.