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Schreiben gegen das Vergessen

Ein bleibendes Mahnmal verschwinde im Alltag einer Stadt, findet die Künstlerin. Der Kniefall beim temporären Gedenken bleibe länger in den Köpfen hängen. © Oeser

Mit einem Stück weißer Kreide in der Hand kniet Gabriele Prein am Sonntagnachmittag auf einer von zwei Fahrbahnen des Mainkais, die mit Pylonen abgesteckt sind. Neben rund einem Dutzend weiterer Schreibenden, die orange Warnwesten tragen, bringt sie Buchstabe um Buchstabe auf die gesperrte Straße, während Roller, Fahrradfahrer und Fußgänger sich an ihnen vorbeischlängeln, teils auch mittendurch drängeln.

Hedwig und Herta T., Louis, Margot und Paul Cohen: Namen um Namen schreibt die 72-Jährige von einer Liste ab auf den Asphalt. Die Liste ist auf ein Brett geheftet, das gleichzeitig als Schreibfeld dient und auf dem Ersatzkreide in einer Schachtel liegt, dazu ein Kugelschreiber zum Abhaken der Namen. Unter ihrem Kleid lüftet Prein übergestreifte Knieschoner, die die meisten der Schreibenden tragen. Immer wieder bleiben vorüberschlendernde Passanten, stehen und fragen Prein, was es damit auf sich habe. „Das sind die Namen der Frankfurter Juden, die in Vernichtungslagern ermordet wurden", so Prein. Die Nordendlerin hat sich gemeinsam mit ihrem Mann, der neben ihr kniet und schreibt, der Aktion von der Frankfurter Künstlerin Margarete Rabow angeschlossen, die damit an die im Dritten Reich ermordeten 11 908 Frankfurter Jüdinnen und Juden erinnert.

„Ich habe großes Interesse an der NS-Zeit, an Erinnerung und an neuen Formen des Gedenkens, um die Geschichte für jüngere Menschen wach zu halten", sagt Gabriele Prein, die Mitglied des Studienkreises „Deutscher Widerstand zwischen 1933 und 1945" ist. Auch Fatimah und Helmut Schollmeyer haben bei Prein nachgefragt, was es mit den Namen auf sich habe. Geahnt habe es das Paar, das in der benachbarten Altstadt wohnt, schon vor der Antwort. „Vielleicht hilft das dem einen oder anderen mal zu reflektieren oder nachzulesen", sagt der 51-Jährige. „Ich kann nicht nachvollziehen, dass es Leute gibt, die sagen, es habe den Holocaust nicht gegeben", fügt Fatimah Schollmeyer hinzu.

Insgesamt fast 200 Schreibende sollen bis kommenden Donnerstag alle Namen der Ermordeten auf die gesperrte Straße am Mainkai zwischen Eisernem Steg und Untermainbrücke mit Kreide geschrieben haben. Darunter hätten sich neben Angehörigen auch Schüler von sechs Frankfurter Schulen angemeldet, berichtet Rabow. „Das ist uns ganz wichtig, dass Kinder und Jugendliche schreiben", sagt die Niederurselerin und fügt hinzu: „Sie sind unsere Zukunft."

Die 14-jährige Chedwa kniet an diesem Tag ebenfalls auf der Straße und schreibt. Regina, Richard, Rudolf Friedmann, immer mehr Namen säumen mit ihrer Handschrift den Asphalt. „Ich finde es wichtig, dass man die Leute nicht vergisst", sagt die Sachsenhäuserin. „So hat man vor Augen, wie viele es waren", ergänzt sie. Die Reaktionen der Passanten seien geteilt: „Manche sind interessiert." Andere hätten die Aktion als „unnötig, weil weit weg in der Vergangenheit" bezeichnet. Die Schülerin hat eine klare Position dazu: „So etwas Schlimmes hätte nie passieren dürfen, es soll aber nie wieder passieren."

Für die Form eines vermeintlich temporären Mahnmals, das sie vor zwei Jahren erstmals in Wien, in Gedenken der dort ermordeten 66 000 Juden umgesetzt hat, hat sich die 65-jährige Künstlerin bewusst entschieden. „An bleibenden Denkmälern läuft man irgendwann vorbei und nimmt sie nicht mehr wahr", sagt Rabow und weiter: „Von den Menschen, die auf der Straße gekniet haben, vergisst das keiner mehr und selbst, die die es nur sehen, werden es wohl kaum vergessen." Festgehalten wird die Aktion mit digitalen und analogen Kameras von Helfern aus ihrem ein Dutzend großen Kernteam. Später sollen die Bilder in einem Film, hintereinander geschnitten, abgespielt werden.

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