Es ist leerer, als es sein sollte. An einem Sonntagmittag im April bewirtet Sergej Trofymov gerade mal vier Tische. Müde lächelnd steht der Gastronom am Eingang des Skaska, empfängt und verabschiedet die paar Gäste mit »Dobrij Den« und »Do Swidanja«. Im Hintergrund rauschen Sowjet-Schlager, während die Kellnerin hinter einer Theke voller Matroschkas Löcher in die Luft starrt. Seit 2018 führt Trofymov, der ursprünglich vom Donbass kommt, das russische Restaurant in der Arthur-Hoffmann-Straße.– Und auch hier macht sich der Krieg bemerkbar.
»Skaska« ist Russisch und heißt »Märchen«. Um das zu verstehen, muss man kein Russisch können, sondern nur das Leipziger Lokal betreten: Bären und Birken verzieren Wände und Speisekarten, hier und da steht ein Samowar. Alles ist vergoldet, alles wirkt zu viel. Der ganze Prunk kann nicht von der gähnenden Leere ablenken. »Das war nicht immer so«, sagt Trofymov. »Es gab Zeiten, da waren wir im Voraus komplett ausgebucht. Wir mussten teilweise Gäste vertrösten, weil wir keinen freien Tisch mehr hatten.« Das Geschäft sei so gut gelaufen, dass der Gastronom einen zweiten Standort eröffnen wollte. Doch dann kam der Krieg.
»Klar kann ich mich an den 24. Februar erinnern.« Sergej Trofymov sitzt an einem der freien Tische, wippt mit dem Knie und kratzt auf der Tischdecke herum: »Ja, das war fürchterlich. Ich stand unter Schock und ich glaube, viele Menschen stehen bis heute noch unter Schock.« Wie ein Großteil der postsowjetischen Diaspora hat Trofymov Verwandtschaft und Freunde in der Ukraine, aber auch in Russland: »Und die müssen sich jetzt gegenseitig erschießen, denn wenn sie nicht schießen, dann werden sie erschossen. Das ist doch Horror.« Er schüttelt den Kopf. »Eine Wahl haben die nicht, die kriegen eine Waffe in die Hand gedrückt und werden an die Front geschickt«.
Nachdem Trofymov in den frühen 2000ern vom Donbass nach Deutschland gezogen war, arbeitete er zunächst in einem griechischen Lokal: »Damals dachte ich: So ein Restaurant führen kann ich doch auch.« Statt griechischem Essen serviert der Gastronom nun Gerichte, mit denen er aufgewachsen ist. »Die russische Küche ist Heimat für mich, na klar«, betont er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Ob Borschtsch aus Russland, Polen oder der Ukraine kommt, sei ihm persönlich egal. Der Entschluss, sein Restaurant als »russisch« zu labeln, sei eine rein wirtschaftliche Entscheidung gewesen: »99 Prozent meiner Kundschaft sind deutsch. Hätte ich damals ein ukrainisches Restaurant eröffnet, hätte niemand von denen gewusst, was das sein soll.« Heute sehe das natürlich anders aus.
Vor dem Krieg sei er eher unpolitisch gewesen, damit habe er nichts am Hut gehabt. Seit Kriegsbeginn ginge das aber nicht mehr. Auf der Webseite seines Restaurants findet man heute ein klares politisches Statement: »Stop War in Ukraine« heißt es dort in leuchtender Schrift, gefolgt von Speisekarte und Öffnungszeiten. Weiter unten gibt es einen zweiten Disclaimer: »Wir sind für die Ukraine! Wir sind für den Frieden! Wir sind gegen das Putin-Regime und gegen alle Eliten, die Kriege entfesseln!«. Auch an Hilfsaktionen hat sich das Restaurant beteiligt. Und dennoch: Die Gäste bleiben skeptisch. Große Reservierungen werden storniert, Bestellungen bleiben aus. »Die sehen halt Matroschkas und Zwiebelkuppeln und denken nicht weiter nach.«
Doch nicht nur die wirtschaftlichen Verluste machen Trofymow zu schaffen. Auch regelmäßige Drohanrufe standen zu Beginn des Krieges auf der Tagesordnung. Damals habe er beschlossen, die Anrufe aufzuzeichnen, er erkenne sie meist im Vorfeld an der unterdrückten Nummer. Die Dateien nennt er »Ein Idiot ruft an.mp3« oder »Drohung von einem Esel.mp3«. Ein Abwehrmechanismus. Nach jedem einzelnen Anruf habe er bei der Polizei Anzeige erstattet, den Behörden seien aber immer die Hände gebunden gewesen – keine Telefonnummer, keine Ermittlung. Der Hass der anonymen Anrufer richtet sich meist gegen russische, oft aber auch gegen ukrainische Menschen, nicht selten gegen beide Bevölkerungsgruppen gleichzeitig.
Jurist, Aktivist und Namensvetter Sergej Prokopkin beschreibt das als »Antislawismus«. Als Betroffener informiert er seit 2020 via Social Media über Antislawismus und hat als einer der Ersten einen Namen für diese Diskriminierungsform gefunden und groß gemacht. Dabei handle es sich um eine jahrhundertealte Diskriminierungsform, die rassistischen Logiken folge und nun von neuem aufkeime: »Menschen wird eine Herkunft zugeschrieben, sei es die ukrainische, osteuropäische oder slawische. Und damit verbundene negative Stereotype«, erklärt Prokopkin im Interview mit dem kreuzer: »Daraus resultiert, dass Menschen Opfer von Hass und Gewalt werden, nur weil sie einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden.« Prokopkin gilt seit jeher als eines der Sprachrohre der sogenannten PostOst-Bewegung: Tausende Menschen fühlen sich von seiner Arbeit angesprochen. Junge postsowjetische Menschen kommentieren Prokopkins Beiträge, diskutieren kritisch mit und teilen ähnliche Diskriminierungserfahrungen.
»Ohne euch wäre die Welt viel besser, ohne euch gäbe es keinen Krieg. Ihr seid Hunde«, schallt es aus dem Handy des Gastronomen, als er die Aufzeichnungen abspielt. Der Mann am anderen Ende der Leitung klingt aggressiv, will provozieren. Einige Anrufer werfen Trofymov vor, das Putin-Regime zu unterstützen, andere, das Putin-Regime verraten zu haben. Bemerkenswert ist, wie ruhig und diplomatisch Trofymov bleibt. In den Aufzeichnungen hört man, wie er jeden einzelnen Anrufer ins Skaska einlädt: »Sie können ruhig zu uns kommen und wir sprechen darüber, ja? Ich habe auch Argumente, warum wir doch Menschen sind.« Zu einem persönlichen Gespräch ist bisher keiner der Anrufer erschienen. Mittlerweile habe sich die Situation im Skaska beruhigt, teilt Trofymov mit. Die Drohanrufe verstummen, was bleibt, ist ein bitterer Nachhall und ein fortlaufender Krieg. CLAUDIA KARMANN