Vor einem Jahr wurde im Allgäu ein Wolf gesehen. Niemand weiß, wo er jetzt ist. Klar ist aber: Wölfe ziehen immer öfter durch Bayern. Vielleicht werden sie sich hier ansiedeln. Von Claudia Hamburger
Irgendwann wird er kein Tourist mehr sein, der nur auf Durchreise ist. Dann wird er bleiben. Er wird sich sein Plätzchen suchen. Sich ansiedeln. Und ein Revier bilden. Der Wolf wird wieder fest zu Bayern gehören.
„Auf Dauer können wir das nicht verhindern", sagt Gerda Käufler, aber sie ist nicht begeistert. Sie glaubt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Wolf sich im Oberallgäu ansiedelt. Südlich von Oberstdorf, wo sie selbst zu Hause ist. Die 60-Jährige betreibt zusammen mit ihrem Sohn einen kleinen Bauernhof mit Ferienwohnungen. Und genau hier, wo die Netzbalken im Handy so schnell abnehmen, wie die Anzahl an Menschen mit Wanderschuhen und Rucksäcken zunimmt, wäre es „das Paradies für den Wolf". Käufler beschreibt das mit zwei Handbewegungen: „Der Wald dort. Die Brotzeit hier." Sie steht hinter ihrem Hof und deutet erst auf die Nadelbäume am Hang. Dann zeigt sie auf die Kühe, Ziegen und Ochsen auf der Weide. Käufler hat Angst, das Vieh könnte - wenn ein Wolf sich längerfristig ansiedelt - von ihm gerissen, zu „seiner Brotzeit" werden. „Man hängt doch an den Tieren. Ich möchte nicht, dass sie elendig krepieren", sagt sie. Verständlich.
Landwirte haben Bedenken: Wölfe könnten ihr Nutzvieh reißenVerständlich sind Käuflers Bedenken vor allem, weil der Wolf schon einmal hier war. Fast genau vor einem Jahr tauchte ein Exemplar irgendwo im Raum Stillachtal und Rappenalptal auf. Der Wolf könnte damals an Käuflers Bauernhof vorbeigeschlichen sein. Oder an der Alp, auf der das Nutzvieh - zum Glück erst ab Juli - frei herumläuft. Damals hatte der Wolf ein Rehkitz gerissen. Die Art des Bisses - ein Wolf tötet effizient mit einem Biss in die Kehle, der das Tier erstickt - deutete auf einen Wolf hin.
Spezialisten werteten die DNA einer Speichelprobe aus. Sie bestätigte: Es handelt sich um einen Wolf. Und zwar um einen, der aus dem benachbarten Vorarlberg herübergewandert war. Ursprünglich stammte er vermutlich von den Wolfsrudeln im Calanda-Massiv ab, südlich von Chur in Graubünden. Dort leben derzeit etwa 20 Wölfe. Typischerweise verlassen männliche Tiere mit eineinhalb Jahren ihr Rudel. Dann machen sie sich auf den Weg, suchen sich ein eigenes Territorium. Dabei können sie weite Strecken zurücklegen, 50 Kilometer am Tag sind kein Problem.
Das Tier im Allgäu ließ sich auf seiner Wanderschaft von einem Jäger fotografieren. Auch das Foto zeigte für die Spezialisten deutlich einen Wolf: die langen, hohen Beine, der gerade Rücken und die dunkle Spitze der Rute. Die lange Schnauze und die dreieckigen, leicht abgerundeten Ohren. Der Wolf war damit bewiesenermaßen zurück im Allgäu. Das letzte Mal hatte man ihn hier vor fast 200 Jahren gesehen: Am Grünten wurde das letzte Exemplar 1827 erlegt. Seitdem galt der Wolf im Allgäu als ausgerottet.
Wölfe wandern oft tagelang umher ohne zu wissen, wann sie auf Beute stoßenDa fällt es Gerda Käufler wieder ein: Vor einem Jahr sei auch eine Ziege von ihrem Hof verschwunden. Sie glaube eigentlich nicht, dass der Wolf das war. „Ich vermute, dass ein Fuchs das Zicklein geholt hat", sagt sie und zupft an ihrem dunklen T-Shirt. Aber ein wenig bleiben die Bedenken, dass es eben auch der Wolf gewesen sein könnte. Für ihn ist so eine Ziege im wahrsten Sinne des Wortes ein gefundenes Fressen. Denn Wölfe reißen das, was für sie am leichtesten zugänglich ist. Schließlich müssen sie mit ihrer Energie haushalten, weil sie oft tagelang umherwandern. Ohne Ahnung, wann sie wieder auf Beute stoßen. Und so eine kleine Ziege, die sich nicht wehren kann, ist leicht zu bekommen.
Leichte Beute - ein Grund mehr für den Wolf, sich hier anzusiedeln. Hat der, der im vergangenen Jahr aufgetaucht ist, aber nicht gemacht. Niemand weiß, wo er mittlerweile ist. Im Stillachtal sicher nicht mehr. Ab und zu würden auf der Wiese Feldhasen und Gämsen rumspringen, erzählt Käufler. „Das würden die sicherlich nicht machen, wenn der Wolf noch irgendwo wäre." Er ist vermutlich weitergereist.
Vielleicht lief er den Weg entlang, der vom Hof der Käuflers tiefer ins Tal führt. Diesen Schotterweg zwischen Wiesen und Butterblumen, auf dem gerade Familie Rick wandert. Jürgen und Cornelia Rick machen mit ihren beiden Töchtern Urlaub, sie wohnen eigentlich am Bodensee. Sie haben nicht gewusst, dass ein Wolf im vergangenen Jahr in dieser Region war. „Aber es wäre mir auch egal", sagt Cornelia Rick. Zum einen würde sie ihn wahrscheinlich nicht mal bemerken oder für einen großen Hund halten. „Zum anderen glaube ich nicht, dass wir Menschen in sein Beuteschema passen." Die 42-Jährige würde sich sogar freuen, einmal einen Wolf zu sehen. Und sie hätte nichts dagegen, wenn er sich ansiedeln würde. „Mensch und Wolf könnten gut nebeneinander leben. Die Bauern sehen das sicherlich kritischer. Ich als Tourist fände das schön." Sie erinnert sich an einen Urlaub, den die Familie vor ein paar Jahren in Kanada verbracht hat. Dort leben die Menschen auch neben und mit einem großen Beutegreifer - dem Bären. „Man hat uns am Anfang unseres Aufenthalts gesagt, was wir machen sollen, wenn wir auf Bären treffen." Damit war das Thema durch. Die Menschen in Bayern haben einfach verlernt, mit solchen Tieren zu leben.
Die meisten Menschen im Landkreis Oberallgäu stehen Wolf positiv gegenüberDabei stehen die meisten Menschen im Landkreis Oberallgäu dem Wolf positiv gegenüber. So empfindet es zumindest Andreas Kaenders, der im Landratsamt in Sonthofen unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und damit einer der Ersten war, der 2014 vom Allgäuer Wolf erfahren hatte. „Der Wolf hat früher zur Natur gehört. Jetzt erobert er sie sich zurück", sagt er trocken. Das sei auch okay: „Er gilt nicht mehr wie früher als mörderische Bestie. Wenn er heute abgelehnt wird, geht es meistens um landwirtschaftliche Belange." Manche Bauern, die ihr Vieh auf der Alp stehen haben, haben nicht nur Angst vor Rissen. Sie befürchten auch, der Wolf könne die Kühe erschrecken, sodass diese den Hang hinabstürzen. Es gibt zwar einen „Ausgleichsfonds Große Beutegreifer", der Schäden erstattet. Aber wie soll ein Landwirt beweisen, dass ein Wolf am Tod der Tiere schuld war, wenn diese keine Bisswunden aufweisen?
Kaenders sagt: „Immer wieder wandern Wölfe durch die Region." Für die meisten aber gebe es keine handfesten Beweise. Wenn der Wolf auf Reisen ist, scheint er scheu zu sein. Nach dem ersten Tier im Rappenalptal wurde dennoch ein weiteres im Allgäu entdeckt: Im Dezember 2014 spuckte eine Fotofalle im Rohrmoostal, die aufgrund von Hinweisen auf einen Luchs aufgestellt worden war, ein Bild von einem Wolf aus. Wegen der schlechten Bildqualität konnte nicht abschließend bestätigt werden, ob es sich um einen Wolf handelte. Aber die Proportionen von Kopf, Körper und Rute deuten darauf hin.
So steht es zumindest in der Excel-Tabelle, die beim Landesamt für Umwelt in Hof geführt wird. Dort tragen die Wildtiermanager jeden verifizierten Hinweis und jeden Nachweis auf einen Wolf ein. Sie dokumentieren quasi seine Reisestationen. Ein langer Flur führt im 4. Stock zu den Wildtiermanagern. Es gibt keine Außenwände, stattdessen große Fenster, die viel Licht hineinlassen. Walter Joswig und Rebecca Oechslein sitzen sich gegenüber. Mit ihnen beiden ist das Wildtiermanagement beinahe komplett. Nur ein weiterer Kollege kümmert sich noch um die großen Beutegreifer in Bayern. „Wir sind ein kleines Team", sagt Joswig fast schon entschuldigend, das die Arbeit im Moment schultert.
Südlich von Oberstdorf wurde 2014 dieser Wolf gesichtet. Ein Jäger hat das geschützte Tier fotografiert.Foto: Landratsamt Oberallgäu
Welche Arbeit eigentlich? Was macht ein Wildtiermanager? Wie sieht ein typischer Arbeitsalltag aus? „Den gibt es eigentlich nicht", sagt Rebecca Oechslein und lacht. Sie ist die Jüngste im Team, 27 Jahre alt. Hauptsächlich ist sie für den Herdenschutz zuständig. „Es gibt Zeiten, in denen ich viel Büroarbeit erledige und dann wieder welche, wo ich überwiegend draußen bin", sagt sie. Draußen, das bedeutet auf der Alp oder der Alm, wie sie in Oberbayern heißt. Vor Ort berät sie Landwirte, wie sie ihr Vieh vor Wölfen schützen können. Mit Zäunen zum Beispiel oder mit Herdenschutzhunden. „Im Prinzip schützen die Maßnahmen gegen alle Gefahren für die Herde", sagt Oechslein. „Es gibt einen Schäfer in Bayern, dem wurden jedes Jahr 40 Lämmer von Kolkraben getötet. Seitdem er sich einen speziell ausgebildeten Hund angeschafft hat, sind die Verluste auf ein Minimum gesunken."
Auch wenn ein Nutztier gerissen wird, ist Oechslein vor Ort. Dann dokumentiert sie die Situation, um zu bewerten, ob ein Wolf beteiligt war. Auch Mitglieder des „Netzwerkes Große Beutegreifer" übernehmen eine solche Dokumentation. Dabei handelt es sich um speziell geschulte Jäger, Förster, Landwirte oder Naturschützer. Sie sind quer über Bayern verteilt und unterstützen das Wolfsmanagement.
Schon im Studium - Oechslein hat einen Bachelor in Landschaftsnutzung und Naturschutz - hat sie sich mit dem Konflikt zwischen Naturschutz und Landwirtschaft beschäftigt. Und damit zwangsweise auch mit dem Wolf. Natürlich tauchen Konflikte auf, sobald er da ist. Viele Landwirte mögen ihn nicht, da sie Angst haben um ihr Vieh. Naturschützer freuen sich und hoffen auf viele weitere Artgenossen. Die Wildtiermanager vermitteln.
Am meisten haben sie zu tun, wenn ein Wolf gesichtet wird - wie vor kurzem im Bayerischen Wald. Dann melden viele Menschen ihre Beobachtungen. E-Mails mit Fotos trudeln ein. Sollte sich der Verdacht auf einen Wolf erhärten, schaut das „Büro Lupus" in Sachsen noch einmal drüber. „Das sind die Wolfsexperten schlechthin", sagt Joswig. Dann ist klar, ob wieder ein Wolf als Tourist durch Bayern gezogen ist.