Liebe Mädchen, Hand aufs Herz: habt ihr den letzten Mann vor eurem ersten Date mal wieder online ordentlich gestalkt? Habt seine Facebook-Chronik bis ins Jahr 2002 durchgescrollt und haufenweise Profilfotos gespeichert, um den Segen eurer Freundinnen für den neuen Mann einzuholen? Und, mal ehrlich, liebe Jungs: wie sehr haltet ihr euch eigentlich noch zurück, das Zu-Bett-Geh-Verhalten der neuen Auserwählten noch vor dem ersten Kuss via Whatsapp zu analysieren? Wie hemmungslos geht ihr vor, sie via einschlägiger Online-Kanäle noch vor dem ersten Sex zu entkleiden?
Tja. Welcome to the Official Club of Datingscheiße.
Wieso unser aktuelles Datingverhalten großer Mist ist? Weil wir während der ersten Verabredungen durch solche Aktionen zwei Haufen eifrig gesammelter Informationen aufeinanderprallen lassen. Die mit unseren ohnehin Bergen von Erwartungen und insgeheimer Sehnsüchte die unbeschwerte Leichtigkeit beim Abtasten erdrücken. Weil sich niemand von uns mehr unbedarft und neugierig ins Abenteuer Kennenlernen stürzen will. Viel zu anstrengend. Lieber haken wir in Ruhe zu Hause am Computer unsere individuellen Checklisten und kritischen Eckpunkte ab, ehe wir unsere kostbare Freizeit mit einem zu kleinen, zu dünnen oder zu-irgendwas-für-mich-Menschen verschwenden. Und deswegen erwischen wir uns immer mehr dabei, wie wir nach dem ersten Date murmeln: „Joa, wir haben uns echt super unterhalten, aber so richtig aufregend war's trotzdem nicht." Wie auch?
Dating ist schwierig geworden und das liegt vor allem daran, dass wir es selber kaputt machen. Weil wir uns keine Mühe mehr geben, den anderen wirklich kennenlernen zu wollen. Weil wir das Ansammeln von Informationen über einen Menschen mit dem Verstehen eines Menschen verwechseln. Weil wir ungeduldig reagieren und oberflächlich in Beurteilungen und antrainiertem Schubladendenken handeln. Weil wir total auf Vollbart stehen, aber nicht wirklich dahinter gucken, wieso er vielleicht mit seiner Männlichkeit hadert oder mit einem verwegenen Look seine sensible Seite verbergen will. Weil wir Mädchen hinter Nerdbrillen tough einschätzen, aber nicht dahinter gucken, ob sie kurzsichtig oder engstirnig durchs Leben rumpelt oder ihr der Weitblick für Familie fehlt.
Weil wir uns zwar für Träume interessieren, aber nicht für Traumata. Weil wir heimlich recherchieren und keine echten Frage mehr stellen, weil wir die Antworten ja schon kennen. Und das ist nur die eine Seite des Problems. Denn gleichzeitig wollen wir beileibe selber nicht sofort preisgeben, was in uns alles rumort. Woher die innere Unruhe und Beziehungsangst kommt, wie tief wir im Dispo und der beruflichen Sinnkrise stecken oder wie uns manchmal eine tiefe Traurigkeit erfüllt, wenn wir an unsere alternden Eltern denken und heulen könnten, wenn wir Babys sehen, die unsere sein könnten. Quatsch, alles gut! Wir sind happy, wir sind alle ein bisschen auf der Suche nach uns selbst und wir gucken eben alle nebenbei nach ein bisschen Liebe und haben dabei superviel Spaß! Ha ha.
Echt, machen wir uns nix vor. Es ist ein Jammer, dass wir in einer Zeit leben, wo das vermeintliche Kennenlernen nicht mehr Vis-à-Vis stattfindet, sondern via Klick-Klick. Meine Oma predigte immer: „Wenn der Richtige vor dir steht, dann spürst du das." Und damit meinte sie nicht sein glattgebügeltes Facebook-Profil, weil sie nicht mal die Existenz des Internets verstanden hat. Sie meinte das kribbelige Gefühl, vor einem Menschen zu stehen und ihn durch und durch anziehend zu finden. Mit einem inneren Kern, der ein Leben lang interessant und vielleicht auch unergründlich bleibt. Weil die Ecken und Kanten eines Menschen seine Anziehungskraft und Reibung ausmachen. Weil niemand lange an einem schönen, perfekten und vorhersehbaren Wesen haften bleibt. Weil wir in der Liebe Herausforderungen und Überraschungen wollen und nicht nach Idealisierungen oder verklärtem Anhimmeln streben. Weil wir uns als Liebende gegenseitig den Spiegel vorhalten wollen. Nur trauen wir uns das genau das nicht, weil wir morgens in den Spiegel gucken, unseren Vollbart stutzen und die Brille zurecht schieben und dazu einreden: „Alles gut!" Die Schutzhülle sitzt.
Wir sind alle Matrjoschkas!Denn darunter funktionieren wir alle wie russische Matrjoschkas. Genau, wie diese lustigen, gemütlichen Steckpuppen aus Holz. Jeder von uns ist eine bunt bemalte Puppe, die sich intuitiv am Bauch selbst entblößen kann. Außen ist die coole, höfliche und äußerliche Schutzhülle, die uns im Alltag auf der Straße, in der U-Bahn und im Supermarkt umgibt. Gute Kleidung, gute Manieren, gute Haltung - im Idealfall. Die nächste Hülle lassen wir im Job fallen, wo man unsere Talente, unsere Club-Mate-Sucht und den Hang zum Witze erzählen kennt, aber wo wir nicht groß über Privatkram reden mögen. Danach folgt die Hülle, die wir bei unseren Freunden entblößen. Als bis hierhin entblätterte Matrjoschka können wir mit unseren Kumpels über eigentlich alles reden. Wir regen uns schonungslos auf, diskutieren, fühlen uns wohl und retten uns gegenseitig. Wir tauchen ohne Scham mit mieser Laune auf, holen Rat und Bier und riskieren keine Peinlichkeiten, weil sich die anderen auf gleichem Niveau zeigen. Als nächstes folgt die familiäre Matrjoschka. Unser im besten Fall wirklich wahrer Charakter, wenn wir es mit unserer Familie zu tun haben. Weil das eben Menschen sind, die uns schon als Tür knallende Kinder und deprimierte Teenager erlebt haben. Die uns kein unnötiges Bemühen abverlangen, gefallen zu wollen. Diese Matrjoschka wird bedingungslos geliebt, beendet deswegen vorzeitig Telefonate und stöhnt „Och, Mama!" Deswegen ist es ja auch so enervierend mit unseren Eltern, weil sie ebenso direkt und ehrlich mit uns umgehen. Und weil sie um unser Scheitern, die zerplatzten Träume und alle Ticks wissen. Und wir um ihre.
Tja, und danach bleibt nur noch die Mini-Matrjoschka übrig. Diese winzige, nicht mehr am Rumpf teilbare Puppe. Unser wahrer Kern, das authentische Ich. Unser Wesen, das frei von antrainierten Rollen, frei von Hipster-Accessoires und frei von sozialen Strukturen ist, die uns interessanter oder schöner oder liebenswerter wirken lassen. Einfach wir. Der Knackpunkt ist, dass diese Mini-Matrjoschkas kein lustiges Spielzeug sind, sondern verdammt verletzbar und beschützenswert. Sie ist so arg zerbrechlich, dass wir sie so gut wie niemandem zeigen. Manchmal ahnen wir sogar, wie wir damit hadern, selber genau hinzugucken. Dann sitzen wir da, in einsamen Stunden und fragen uns, wer wir eigentlich sind, wenn niemand guckt. Und wen das überhaupt wirklich interessiert.
Ach, vielleicht hat uns doch mal einer gesehen. Unser Ex-Partner. Vor dem wir heulend, krank oder genervt wir sein konnten. Bei dem wir nach Monaten auch mal wütend die Tür knallen konnten oder nach Jahren ungeschminkt am Frühstückstisch unsere Augenringe, Kontostände und gescheiterten Karriereziele verglichen haben. Mit dem wir unbeschwert auf der Wiese lagen und uns Sachen erzählt haben, die wir vorher noch - ich schwöre! - nie jemandem verraten haben. Der sich unsere sexuellen Reizpunkte und Familienkonstellationen gemerkt hat und uns dafür anvertraute, was ihn zum Orgasmus oder zum Heulen bringt. Mit dem uns nix peinlich war. Mit dem so egal war, was die Leute über uns denken. Weil uns eine innere Ausgelassenheit zusammenschweißte und ein gegenseitiges Urvertrauen verband. Weil wir uns über einen gewissen Zeitraum gegenseitig entblättert haben und nun wie Mini-Matrjoschkas verliebt Händchen halten. Romantischer Kitsch? Klaro, geht hier ja schließlich um Liebe.
Und leider ist das mit der wahren Liebe bei uns schon Jahre her oder gar eine unerfüllte Sehnsucht. Je länger wir allein sind, desto mehr glorifizieren wir das großstädtische Singleleben. Wir hüpfen als teilweise entblätterte Matrjoschkas herum und sind viel zu beschäftigt und abgelenkt, um uns wochenlang darauf einzulassen, einen fremden Menschen näher zu ergründen. Deswegen ziehen wir diese Datingscheiße durch. Weil es so super einfach ist, einen potentiellen Partner digital zu durchleuchten, statt sich mit seinem inneren Kern auseinanderzusetzen. Musikgeschmack, Figur, Stadtteil, Businessidee und Lieblingsautor. Zuletzt online vor 3 Minuten, 329 Freunde, 1. Like bei unserem neuen Profilfoto, zweimal Anstupsen, dreimal daten. Von „Enge Freunde" wieder auf „Bekannte" setzen. Und weitermachen.
Jemanden finden geht super online, wie beispielsweise auf dieser hübschen Seite. Aber echtes Kennenlernen geht eben nicht digital. Wir haben in dieser ganzen Datingscheiße leider verlernt, dass wir um unser selbst Willen geliebt werden wollen. Mal ehrlich, wie lange hat es zuletzt gedauert, bis wir unseren neuen Kumpels offenbart haben, dass wir mal eine Psychotherapie gemacht haben, essgestört sind, Menschenmassen meiden oder einen Hang zu Melancholie haben? Jeder wäre zu recht überfordert, sofort zu erfahren, dass in dem Menschen handfeste Zweifel und Ängste brodeln. Niemand will bei der ersten Verabredungen auf jemanden treffen, der sich keine Mühe gibt, sich nicht von seiner allerprächtigsten Seite zu zeigen. Schon klar. Aber bitte, liebe Mädchen und liebe Jungs, lasst uns nicht vergessen, dass wir alle auch die andere, nicht ganz so leichten und liebenswürdigen Facetten in uns tragen. Die aber auch zu uns gehören und vor allem genau die Seiten sind, die sich nach wärmender Liebe sehnen.
Wir wollen geliebt werden, so wie wir sind. Und deswegen gibt es nur eine Möglichkeit, diese oberflächliche, ungeduldige Datingscheiße wieder auf würdevolles und aufregendes Niveau zu heben. Wir müssen alle mehr Geduld, Neugier und Mut aufbringen, wenn wir einen Menschen wirklich kennenlernen wollen. Statt drei Flirts gleichzeitig sollten wir uns auf eine Person konzentrieren. Schließlich erwarten wir auch, dass uns Vertrauen und Achtsamkeit entgegengebracht werden. Außerdem sind wir alle klug genug zu wissen, dass Liebe nicht rein auf sexueller Anziehungskraft und spaßiger Unterhaltung basiert, sondern wachsen muss und Zeit braucht. Zeit. Die, die wir verplempern, während wir ihn stundenlang online bei Facebook stalken oder ihre Blogeinträge von vor zwei Jahren lesen.
Natürlich werden wir immer wieder der Online-Versuchung erliegen. Aber bitte, unseren Omas zuliebe, lasst uns nicht dauernd nach einer Handvoll Dates wieder aufgeben, weil uns das Gefühl beschlichen hat, da wäre nix mehr an Infos rauszuholen. Das nächste Mal, wenn wir mit jemanden Sex haben, muss uns klar sein, dass da gerade zwei komplett zusammengesetzte Matrjoschkas geknutscht haben. Joa, war schon geil. Machen wir weiter mit dem Enthüllen! Trauen wir uns, um unser selbst Willen geliebt zu werden! Alles andere wäre auch echt Scheiße, oder?
Headerfoto: Carolyn Sewell via Creative Commons Lizenz!