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Wie von Disney gezeichnet - Mannheimer Morgen

Irgendwo hinter den diesigen Nebelvorhängen schmiegt sich Neuschwanstein ans Ammergebirge. Unser Autor ist von Füssen aus sieben Kilometer durch den Schnee hoch zur Burg gelaufen. Eine gewanderte Ewigkeit.

Ein Knistern wie Styropor unterm Stiefel. Eine Stadt, versteckt unter Väterchen Frosts Mantel. Füssen im Winter, eine Geschichte in Weiß. Getragen von der Sehnsucht nach dem Märchenschloss schlechthin: Neuschwanstein. Wie der Weg das Ziel ist, sind die Füße der Antrieb. Startpunkt: der Bahnhof des rund 15 000 Einwohner großen Örtchens im Allgäu. Distanz: knappe sieben Kilometer. Eine gewanderte Ewigkeit.
Der Atem bildet kleine Gespenster in der Luft. Erster Zwischenstopp, das Hohe Schloss zu Füssen. Illusionistische Architekturmalereien an den Fassaden sollten einst Feinde abschrecken. Heute ziehen sie Touristen an. Oben vom Glockenturm gibt es die perfekte Sicht über die schneebedeckten Dächer, sowohl der Altstadt als auch der Voralpen. Und irgendwo im Verborgenen, umschlossen von diesigen Nebelvorhängen, schmiegt sich Neuschwanstein ans Ammergebirge.
Ein Schwan auf den Strömungen des an beiden Uferseiten gefrorenen Lechs gibt die Richtung vor. Wie in einem kleinen Sternensystem könnte der Suchende in alle Richtungen ausbrechen – die Holztafeln auf dem Wanderweg weisen bis nach Österreich –, doch die nächste Etappe führt vorbei am Alpsee.

Gang über den Alpsee

Schlossherr König Ludwig II. liebte es hier zu schwimmen. Das geht noch heute. Im Winter läuft es sich aber besser drüber. Auf direktem Weg in den Wald. Verlangsamt durch den tiefen Schnee geht es serpentinenartig einen Hügel hinauf. Kurve um Kurve, nach jeder ein sich wiederholendes Mantra: es kommt gleich, es kommt gleich, es kommt gleich. Tatsächlich, ist man weit genug oben, dass die eigenen Spuren im Schnee Hasenabdrücken gleichen, blitzt zwischen den vereisten Ästen etwas auf. Türme. Eine gelbe Wand. Hohenschwangau.

Das sonnenfarbene Hohenschwangau soll sich auch fürs ungeübte Auge auf den ersten Blick vom kalksteinweißen Neuschwanstein abgrenzen. Der Anstrich wurde über die Jahre satt und satter, unter den Touristenhorden gab es genug, die in der Schlange zum falschen Schloss anstanden. Nun sind beide - abgesehen von der komplett unterschiedlichen Architektur, Lage und Größe natürlich - auch farblich voneinander zu unterscheiden.

Ludwigs Kinderstube ist die letzte Station auf dem Weg zu seinem architektonischen Traum. Von hier aus beobachtete er einst mit einem Fernrohr den Fortschritt Neuschwansteins auf dem gegenüberliegenden Berghang. Von hier aus entdeckte er, dank einer bergsteigerbegeisterten Mutter, die Liebe zur Natur. Hier schließen sich zwei Kreise. Ludwig entschied sich wegen der Natur für diesen Flecken Erde. Ludwig entschied sich gegen seine Mutter für den Bau Neuschwansteins. Denn ein Schloss war nicht mehr groß genug für zwei.

Wer zum Weiß will, muss durchs Weiß. Trotz der Wetterlage sind viele Wanderer unterwegs. Nichtsdestotrotz ist ihr Ansturm ein laues Lüftchen im Vergleich zum menschlichen Orkan, der im Sommer über die Schlösser fegt. Die überwiegend chinesischen Touristen kämpfen sich tapfer für ihren Hang zum Schloss den Hang zum Schloss hinauf. Fußfaules Volk setzt und sitzt auf Kutschen. Pferde, die zwar nicht schneller an einem vorbeiziehen, dafür umso entspannter - vor allem für die eigenen Füße. Busse bewältigen den Aufstieg erst ab Frühjahr.

Ein Anstieg des Hochgefühls, als sich Neuschwanstein final vor einem erhebt. Wäre man blind, man würde spüren, wo man sich befindet. Die Burg wirkt übertrieben surreal. Wie von Walt Disney gezeichnet. In ihrer Anwesenheit scheinen die feinen Schneekristalle im Sonnenlicht wie Glitter, der vom Himmel fällt. Ihr Empfang ist dennoch eisig. Obwohl Ludwig II. eine zu seiner Zeit innovative Heißluft-Heizanlage einbauen ließ - mit Kachelöfen in jedem Zimmer - müssen die Herumgeführten bibbern.

Nebenbei: Die geflügelten Worte „Ein Satz heiße Ohren" finden hier ihren Ursprung. Um die Öfen zu betreiben, gab es für die Diener nur den Zugang über Zwischenwände. Da sie von dort aus in die Zimmer hineinlauschten, entstanden die sprichwörtlich „heißen Ohren".

Die Kälte im Schloss kommt den Wandmalereien und der Bewahrung ihres Verfalls zugute. Fresken mittelalterlicher Sagen, wie die von Siegfried, dem Drachentöter oder die Gralslegende um Parzival gesellen sich zu der Erzählung Lohengrins, des Schwanenritters. An seine ritterlichen Tugenden der Ehre, Treue und Liebe orientierte sich Ludwig II., und wie zum Fingerzeig ist der Schwan - in seiner stilisierten Reinheit - in Türklinkenformen, Stickereien und Verzierungen überall im Schloss vertreten. Im Schlafgemach des Königs spendet ein versilberter Schwan Wasser.

Die künstlerische Renaissance des Mittelalters, die ritterliche Wartburg stand Pate für Neuschwanstein; sie ist ebenso auf den Gemälden präsent. Bis auf ein Detail. Der romantische Geist jener Zeit blendete alles Schlechte aus: Kein Tropfen Blut ist auf den Schlachtendarstellungen zu sehen. Die Gefallenen im Bild wirken wie Schlafende.

König Ludwig selbst schlief letzten Endes nur 171 Nächte in seiner selbst erschaffenen Gegenwelt. Das Echo, welches er hinterließ, hallt jedoch als Traum, der zur Realität wurde, durch die Jahrhunderte - und er regt Besucher bis heute zu realen Träumen an.

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