Berlin (MOZ) In der Regel versuchen Therapieeinrichtungen für Alkoholkranke, ihre Patienten ganz weg vom Trinken zu bringen. Doch es gibt andere Wege.
Die WG-Morgenluft in der Seydlitzstraße riecht nach Bockwurst und Schnapsfahne. Zum Frühstück in der Wohngemeinschaft, die nur ein paar Meter vom Berliner Hauptbahnhof entfernt liegt, gibt es eine solide Grundlage. Am Tisch sitzen Peter Schulz, Sven Huber, Mario Schmidt und Thomas Wolf (alle Namen von der Redaktion geändert). Gegen den Flattermann am Morgen hilft nur der Wodka, erklärt Schmidt beim Frühstück. Er säuft seit 25 Jahren: Appelkorn, Weinbrand, Whiskey, Wodka, Pfeffi. Trinken ist in der Wohnung verboten, nicht aber auf der Straße, auch wenn sich nicht immer dran gehalten wird.
Die Trinker-WG „Cumfide" funktioniert wie eine normale Wohngemeinschaft. Es wird gemeinsam gefrühstückt, es gibt einen Putzplan und ab und zu mal einen Streit. Aber: In dieser WG sterben die Mitbewohner, fünf Männer seit der Gründung vor sieben Jahren. Rainer, Jimmi, Selke, Volker und Bernd waren Ende 50, Anfang 60. Der Alkohol hat sie dahingerafft. Den anderen Bewohnern droht dasselbe Schicksal. Schulz ist Spiegeltrinker, Huber und Wolf sind Gelegenheitstrinker mit Kontrollverlust, Schmidt trinkt sich - wenn er trinkt - exzessiv bis ins Koma. Hooligan-Szene, Kindheitstraumata oder Gefängnis - jeder hier hat seine traurige Geschichte.
In der WG in der Seydlitzstraße 22 wohnen Menschen, die alles versucht haben, um ihrer Sucht zu entfliehen - Entzugskliniken, Selbsthilfegruppen, Psychiatrien. „Die meisten haben jahrzehntelang alle erdenklichen Einrichtungen besucht - aber nichts hat funktioniert", sagt Mathias Förster. Manch einer würde sagen: Diese Menschen sind hoffnungslose Fälle. Nicht so Förster. Der 35-Jährige und seine Kollegen betreuen sie im 24-Stunden-Schichtsystem. In Deutschland gibt es etwa 400 000 Trinker, die chronisch abhängig sind, sagt Frank Härtel, Leiter der Kommission Sucht und Drogen in Sachsen.
Schulz, Huber, Schmidt und Wolf passen nicht in die Logik, mit der sich Sozialstaat und Medizin dem Problem nähern. Abstinenz ist in den allermeisten Fällen immer noch das Therapieziel, obwohl das kontrollierte Trinken in der Suchthilfe kontrovers diskutiert wird. Deswegen gibt es bundesweit nur wenige Einrichtungen, die nicht abstinente Alkoholiker akzeptieren. In Berlin sind das neben „Cumfide" etwa das „Haus Schöneweide" und die „Bürgerhilfe Verbundwohnen". Auch die Caritas Stuttgart, das dortige Klinikum oder beispielsweise das Trockendock in Wriezen (Märkisch-Oderland) bieten Gruppenprogramme zum kontrollierten Trinken an.
„Wenn wir sie nicht betreuen würden, dann wären sie irgendwo auf der Straße, im Knast, oder in der Psychiatrie. Wir ermöglichen ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft", sagt Förster von „Cumfide". Der Sozialarbeiter lenkt sie von ihrer Sucht ab: Sie frühstücken gemeinsam, gehen in den Zoo, oder machen Urlaub am Großvätersee in Brandenburg, da waren sie Anfang September. „Ohne uns würden sie nicht mal auf die Idee kommen zu frühstücken." Die Plätze in der WG sind begrenzt. Der Bedarf ist größer als das Angebot: Es gibt 18 Plätze in zwei WGs in Berlin-Mitte, auf sie kommen rund 1200 durch Alkohol psychisch beeinträchtigte Menschen.
Alkohol gilt hierzulande als „Kulturgut", die Deutschen sind Weltspitze im Trinken. Knapp 1,8 Millionen Menschen sind alkoholabhängig. Die Folge: Leberzirrhosen, Gehirnschäden, Herzmuskelerkrankungen sowie Leber-, Mund- oder Speiseröhrenkrebs. Alkohol tötet jährlich rund 74 000 Menschen bundesweit, meldet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Die volkswirtschaftlichen Kosten summieren sich Schätzungen zufolge auf knapp 40 Milliarden Euro - für ärztliche Behandlungen, Arbeitsleistungsausfall, Frühberentung, Erwerbsunfähigkeit oder frühzeitigen Tod.
Hilfe ist rar und für die Alkoholiker, die nicht mit dem Trinken aufhören können, im Allgemeinen auch schwer zu finden. Von den knapp zwei Millionen Alkoholabhängigen in Deutschland bekommen nur zehn bis 15 Prozent professionelle Hilfe - oft erst viel zu spät nach bis zu 15 Jahren Abhängigkeit, sagte der renommierte Suchtforscher Karl Mann jüngst. Bei keiner anderen Volkskrankheit sei die Behandlungslücke so groß. Karl Mann plädiert deswegen dafür, auch anderen Ansätzen als dem absoluten Verzicht eine größere Chance zu geben.
Auch bei der Berliner Stadtmission ist man dieser Meinung. „Begleitetes Trinken heißt die Menschen dann aufzufangen, wenn sie es nicht schaffen", erklärt Sprecherin Ortrud Wohlwend. Alkohol in Deutschland sei so sichtbar wie in keinem Land. „Es ist das Erste, was man sieht, wenn man in den Supermarkt kommt - eine Lobby verdient gut, der Staat steuert nicht dagegen."
Obwohl der Staat genau weiß, wie er gezielt gegensteuern kann, rührt sich in Deutschland so gut wie nichts, kritisiert der aktuelle DHS-Bericht. Von Maßnahmen - Steuererhöhungen für Alkohol, effektiver Jugendschutz und Werbeverbote für Alkohol - werde weitestgehend abgesehen. „Wir arbeiten mit den Folgen, auch diese Menschen gehören zur Gesellschaft", sagt Wohlwend.
Diejenigen, die es nicht schaffen, finden nicht in die Gesellschaft zurück. Sie werden abgehängt, weil sie nicht mit dem Trinken aufhören können, viele von ihnen sterben auf der Straße. „Durch das System wird Druck aufgebaut, der die Sucht fördert", meint Martin Helmchen, Sozialarbeiter bei „Neue Chance" in Berlin-Neukölln. „Das Ziel soll ja bleiben, da sind sich alle einig. Jedoch hängt man Leute, die lange abhängig sind, damit ab. Sie brauchen mehr Zeit und Betreuung", sagt Helmchen.
Welches Therapie-Konzept zu wem passt, das müssen Ärzte, Therapeuten und Patienten gemeinsam herausfinden, sagt Marlene Mortler, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung. „Bei so vielen Betroffenen gibt es nicht das ‚Allheilmittel', welches allen gleichermaßen gut hilft."
Seit sein Bruder Rainer gestorben ist, ist Sven trocken. Sieben Monate ist das her. „Ich habe keine Angst vorm Tod, aber brauche den Scheiß nicht mehr", sagt der 49-Jährige, krauses Haar, Tattoo am Unterarm, sanftes Gemüt. Doch er gilt als Periodentrinker, der jederzeit wieder rückfällig werden kann. Seine Leber hat in knapp 30 Jahren Alkoholsucht gelitten, auch wenn es für Huber noch nicht ganz zu spät ist. Im Garten vor der WG baut er Gurken und Tomaten an. Das senkt den Blutdruck. Auch wenn Huber vielleicht nie wieder alleine leben kann: Er will es anders als sein Bruder machen.