In Graubünden befindet sich der erste und einzige Nationalpark der Schweiz. Das Besondere: Hier überlässt man die Natur wieder sich selbst. Graubünden ist der größte Kanton des Landes und gleichzeitig der mit den wenigsten Einwohnern und lockt Wanderer und Naturliebhaber.
"Ich glaube, wir haben hier die perfekte Lösung, irgendwo zwischen Tourismus und Naturschutz, gefunden", sagt Prof. Dr. Heinrich Haller, Direktor des Schweizerischen Nationalparks bei Zernez, vor hundert Jahren gegründet und in der Schweiz der erste und einzige seiner Art. "So liegt es besonders in unserem Interesse, hier den Schutz der Natur mit wissenschaftlicher Forschung und dem richtigen Maß Umweltbildung zu verbinden." Besondere Beachtung verdient der Nationalpark, der sich auf einer Fläche von 170 Quadratkilometern zwischen der Touristenregion Engadin und dem Münstertal erstreckt, aber auch wegen eines anderen Merkmals: Man überlasst die Natur hier wieder sich selbst. Schädlingsbefall, Bergstürze oder Lawinen lässt man geschehen. Die Folgen werden nicht beseitigt, sondern fügen sich ganz natürlich in das Bild des Nationalparks ein.
Bis ins 19. Jahrhundert wurde das Gebiet von der Forstwirtschaft genutzt, heute steht hier wieder ein richtiger Urwald. Nur die zahlreichen Wander- und Exkursionswege werden von Parkwächtern instand gehalten, umgestürzte Bäume zur Seite geräumt - aber auch Müll, der (zum Glück nur sehr selten) liegen gelassen wird, verschwindet dank des Einsatzes der Angestellten. Nur ein Mal während eines Waldbrands vor einigen Jahren wurde tatsächlich eingegriffen, erzählt Haller weiter. "Sonst wäre womöglich das ganze Schutzgebiet abgebrannt."
Von diesem Ansatz der zurückkehrenden Wildnis lebt auch der Tourismus: Es gibt von den Rangern geführte Ausflüge und thematische Exkursionen, aber auch zahlreiche Wandermöglichkeiten wie von Punt la Drossa oder Champlönch nach Il Fourn (jeweils 2 und 4 Stunden). Die Besucher selbst fühlen sich wohl bei einer deftigen Brotzeit auf der Alm und ihren Wanderungen durch die Wildnis, auch wenn sie ihre Vierbeiner und Zweiräder zu Hause lassen müssen - zwei der zahlreichen Regeln, um dem Gebiet seine Natürlichkeit zu lassen. An diese hält man sich allerdings, so Haller: "Geldbußen verhängen wir nur äußerst selten, die Touristen kontrollieren sich glücklicher weise gegenseitig."
Steinadler, Murmeltiere, Bartgeier, Hirsche, Gams- und Steinböcke - alle sind sie heimisch in der Region. Wer geduldig und neugierig bleibt, kann einige dieser Tiere auf einer der vielen Wanderrouten entdecken. Sogar Wolf und Bär lassen sich hin und wieder in Graubünden blicken - je nach Blickwinkel pelziges Problem oder Touristenattraktion.
Auch fernab des Schweizerischen Nationalparks ist Graubünden ein Paradies für Wanderer und Naturfreunde. Biosphärenreservate, Wanderwege und Pässe in verschiedenen Schwierigkeitsgraden sind fast im gesamten Osten des Kantons zu finden. Wanderer und Natur-Touristen kommen dank der stündlich verkehrenden gelben Postbusse schnell an ihr Ziel; der Transport funktioniert teilweise auch bis ins benachbarte Österreich und über die Grenze hinweg nach Italien.
Eine der wohl schönsten Wanderwege der Region führt rund sechs Stunden und fast 500 Höhenmeter von Lü (1.920 m) über den Pass da Costainas (2.251 m) nach S-Charl (1.811 m). Zwischenzeitlich sogar über der Baumgrenze auf 2.200 Metern unterwegs, stehen auch hier Natur und Umwelt im Fokus der Entdeckungen. "Wir, die hier arbeiten, sind nur die Botschafter der Natur", erklärt uns Henri Duvoisin. Der gebürtige Franzose ist studierter Mediziner und Psychologe und arbeitet mittlerweile als ausgebildeter Wanderleiter in der Region. Sechs Tage die Woche ist er während der Saison mit Wanderern unterwegs; erklärt Geologie und Geschichte der Region, aber auch den medizinischen Nutzen von Kräutern und Blumen - und davon gibt es eine Menge.
"Erst wenn der letzte Arvenbaum verschwunden ist, dann gehen auch die Bündner." So lautet ein bekanntes Sprichwort der Region und spielt damit auf die Widerstandsfähigkeit der hier typischen Zirbelkiefer (in der Schweiz Arve oder Arbe genannt), aber auch die Sprache und Kultur der einheimischen Rätoromanen an. Wie zum Beweis befindet sich im Hochmoorgebiet des Unterengadin das Naturwaldreservat God da Tamangur, Europas höchster geschlossener Arvenwald. Zahlreiche der kräftigen Bäume liegen fast zerstört, vom Blitz getroffen - aber dennoch lebendig - in dem urigen Moorgebiet. Einige wenige sind sogar bis zu 800 Jahre alt.
Wenn man sich diesen Wald und die umgebende Bergwelt Graubündens ansieht - die Gipfel, die Täler, die Wiesen - scheint es fast so, als ob sich hier in den letzten Jahrtausenden wenig geändert hat. Und wahrscheinlich bleiben sowohl Arvenbäume und die Bündner noch eine Weile hier.