Nova Petrópolis. Das Hinterland von Porto Alegre kommt einem als Deutschem seltsam bekannt vor. Teilweise wähnt man sich im Allgäu, teilweise an den Steilhängen der Mosel, teilweise könnte man meinen, man wäre im Hunsrück gelandet. Wenn nur die Palmen nicht wären.
Kulturell fühlt man sich sowieso schnell zu Hause, hat doch die massive Auswanderung des 19. Jahrhunderts aus dem Hunsrück in Richtung Südbrasilien dort bis heute ihre Spuren hinterlassen. Wie tief diese allerdings sind, zeigt eine intensive Erkundungstour.
Wer sich dem Städtchen Nova Petrópolis nähert, wird auf großen Plakaten und Schildern darauf hingewiesen, dass es dort in Lokalen mit wohlklingenden Namen wie "Opa's Kaffeehaus" das beste "Café Colonial", eine Mischung aus deutschen Kuchen, Torten und Deftigkeiten von Sauerkraut über Wurst bis hin zu Kässchmier, in der Gegend gibt. Wo man im Hinterland von Porto Alegre im Bundesstaat Rio Grande do Sul auch hinschaut, der deutsche Einfluss ist unverkennbar. Bei einem zweiten Blick wird allerdings deutlich: Nicht bayrische, böhmische oder schlesische Traditionen sind hier - wie in anderen Gegenden der Welt zu erleben - prägend. Nein, es ist der Hunsrück, der hier bis heute lebendig geblieben ist und über den man überall stolpert.
Im Sekretariat des gerade zufällig stattfindenden Folklorefestivals wird die auf Portugiesisch gestellte Frage direkt in breitestem Hunsrücker Platt beantwortet, wenn auch in einem Singsang, der die Nähe zur Landessprache deutlich macht. "Mir schwätze dehämm immer noch Deitsch", bekommt man da zu hören. Schnell kommt man ins Gespräch und hört, dass immer wieder Deutsche den Weg in die Region finden, man sich mit diesen allerdings kaum verständigen könne. Mit dem Wort "Kartoffeln" etwa kann man wenig anfangen, "Krumbiere" sind allerdings sofort bekannt.
Folklore ist beliebt bei der JugendDass die Menschen hier einen Dialekt sprechen, der nur in einer kleinen, hügeligen Region im Südwesten Deutschlands gesprochen wird, ist den meisten Deutschstämmigen, die teilweise in der siebten Generation in Brasilien leben, gar nicht mehr bewusst. Tatsächlich hat kaum jemand je vom Hunsrück gehört oder weiß auch nur, woher seine Familie ursprünglich stammt. Das ist aber heute auch kaum noch relevant, sprechen doch alle ganz selbstverständlich Hunsrückerisch.
Glaubt man den einschlägigen Quellen, gibt es mehr Menschen in Brasilien, die den Dialekt sprechen, als im Hunsrück selbst. In verschiedenen Bezirken ist Deutsch verpflichtende erste Fremdsprache, wenngleich es sich dabei ebenfalls eher um Dialekt als um ordentliches Hochdeutsch handelt. Auch die anderen Traditionen - oder das, was man dafür hält - werden selbst von der jungen Generation hochgehalten. Mehr als 1000 deutsche Folklorevereine mit klangvollen Namen wie "Bergtal" oder "Edelstein" wurden im südlichen Brasilien in den letzten Jahrzehnten gegründet und halten Kegeln, Volkstanz und deutsches Liedgut am Leben. Womit man in Deutschland keine Jugendlichen mehr hinter dem Ofen hervorlocken kann, erfreut sich im bergigen Rio Grande do Sul größter Beliebtheit als Freizeitaktivität. Allerdings beklagen auch hier die Alten, dass es schon einmal besser war.
Auch andere Dinge finden sich, die man im Hunsrück vergeblich sucht, zum Beispiel eine Brauerei, die "Hunsrück" heißt und gleichnamiges Bier verkauft. Auch deren Gründer Miguel Engelmann weiß nicht, ob seine Familie selbst einen direkten Bezug zum Hunsrück hat, wollte aber ein Bier anbieten, dass sich von dem sehr leichten, recht geschmacksneutralen brasilianischen Gerstensaft abhebt und besann sich dabei auf die deutschen Wurzeln der Region.
Zwar wurden auch einige der großen Bierbrauereien Brasiliens, wie etwa die älteste namens "Bohemia" ursprünglich von Deutschen gegründet, allerdings haben diese den Bezug zu ihren Wurzeln über die letzten 150 Jahre verloren. Da bot es sich für Engelmann an, mit dem Bezug zum Hunsrück einen anderen Weg einzuschlagen - was ihm nach Verkostung des angebotenen Pilseners und Weizens durchaus gelungen scheint.
Marmelade heißt "Schmier"Die Spuren der Einwanderer aus dem Hunsrück, die in zwei großen Wellen ab 1824 nach Brasilien auswanderten - zunächst übrigens nicht auf der Suche nach Edelsteinen, was sich aber später änderte - lassen sich überall finden, wenn man die Augen offen hält. Zum "Frustick", wie man die erste Mahlzeit des Tages dort inzwischen mangels Umlauten einfach schreibt, gibt es Marmelade, die aber "Schmier" genannt wird.
Nachmittags gibt es "Appel-Deggel-Kuche", der lokale Elektrotechniker heißt Enzweiler, die Partys in den "Salons" mit klingenden Namen wie "Cowboy" und "Gewehr" heißen schlicht "Kerb", und auf den Friedhöfen finden sich jede Menge Leyssers, Drehers und Tiefenbachs. Und natürlich gibt es überall das "Churrasco", Fleisch am Spieß, von dem sich einst die Erfinder des Spießbratens inspirieren ließen und das heutige hiesige Nationalgericht mit nach Idar-Oberstein brachten.
Auch was das Aussehen der Menschen angeht, sind die deutschen Wurzeln im südlichen Brasilien kaum zu verleugnen. Es gibt Schätzungen, dass etwa 10 Prozent aller Brasilianer deutsche Vorfahren haben dürften - und Rio Grande do Sul und die angrenzenden Bundesstaaten liegen eindeutig über diesem Schnitt.
Der Einfluss könnte heute noch deutlicher sein, wäre während des letzten Weltkrieges nicht alles Deutsche verboten und mit aller Härte verfolgt worden - und hätten sich etwa die Gründer von Novo Hamburgo, die aus dem Hunsrück stammten, damals auf einen Ortsnamen aus der Region einigen können und nicht den Namen des gemeinsamen Einschiffungshafens als Kompromiss genommen. Ein Ausflug in die Gegend lohnt aber allemal - und sei es nur, um sich bewusst zu werden, was einem zu Hause nicht immer so klar wird: wie reich die Hunsrücker Kultur ist und wie eng die Vernetzungen zwischen dem Hunsrück und dem Gastgeber der nächsten Fußball-Weltmeisterschaft und der Olympischen Spiele bis heute sind.
Von Christoph Giesa und Florian Pauly