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Der Kampf der Vanda Witoto

Vanda Witoto hat gewonnen. Nicht die Wahl. Die Kandidatin wird im Januar 2023 nicht als Abgeordnete für den Kongress nach Brasilia einziehen. Aber sie hat als erste indigene Einzel-Kandidatin mehr als 25.000 Stimmen im Bundesstaat Amazonas erzielt. Hier leben mehr Indigene als irgendwo sonst in Brasilien, doch noch nie in der Geschichte des Landes wurde vom Amazonas ein Repräsentant in den Kongress entsandt. Vanda Witoto ist 35 Jahre alt, ausgebildete Lehrerin, aktive Krankenschwester und unermüdliche Aktivistin. Sie hatte bisher kein politisches Amt inne und trat für die 2013 von der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva gegründete Partei „Rede Sustentabilidade“ (sinngemäß etwa: Netzwerk für Nachhaltigkeit) an. Dass eine politisch unerfahrene junge Indigene in diesem von illegalen Goldschürfern, Holzhändlern, Sojapflanzern und Rinderzüchtern dominierten Bundesstaat auf Anhieb mehr als 25.000 Stimmen bekommt, ist ein phänomenaler Sieg.

 

Im Juni macht Vanda beim Prä-Wahlkampf ihre ersten Schritte als Politikerin. Dabei trägt sie ihre traditionelle Gesichtsbemalung, traditionelle Muster zieren auch ihre Kleidung, genäht von ihren Teilhaberinnen im Modeatelier Derequine. Die Kandidatin steht zu ihrer Herkunft, zeigt offen ihre Kultur – auch wenn sie damit in Manaus auf Ablehnung stoßen kann. In Irari, einer indigenen Siedlung im Grenzgebiet zu Kolumbien und Venezuela, wird sie ihre Kandidatur Vertretern von 80 indigenen Gemeindevertretern vorstellen, die an diesem Wochenende eine Versammlung abhalten.

 

Vor dem Treffen nimmt Vanda ein letztes Bad im Fluss, wie immer, wenn sich dazu eine Gelegenheit bietet. „Der Fluss gibt mir Kraft“, sagt sie oft. Langsam steigt sie in die Fluten. Sie streichelt das Wasser. Schließt die Augen. Bedankt sich murmelnd. Dann taucht sie unter. Als sie wieder auftaucht, lacht sie ihr strahlendes Lächeln und es ist ihr nicht anzusehen, dass sie seit Wochen kaum eine freie Minute findet. Dass sie eigentlich zwei Tage früher hier sein sollte, aber das Flugzeug wegen Starkregens nicht in der Kreisstadt São Gabriel da Cachoeira landen konnte. Vanda ist verspätet im Dorf Irari angekommen, ihr ohnehin enger Zeitplan wird noch enger, die Planung geht nicht mehr auf: Wollte sie mit dem eigentlich geplanten Bootstransport zurückfahren, müsste sie sofort nach der Ankunft wieder los, ohne überhaupt zu den Chiefs gesprochen zu haben. Vanda taucht erneut unter, kommt wieder hoch, wirft ihr hüftlanges Haar zurück und stapft zum Ufer. Von so einer Kleinigkeit lässt sie sich nicht aufhalten.

 

Wer Vanda kennenlernt, mit ihrem einnehmenden Lachen, ihrer klaren, fokussierten Art zu sprechen, mit ihrer natürlichen Empathie und ihrem Charisma – der wundert sich, dass die Vertreterin des Volkes der Witoto erst jetzt brasilienweit bekannt wurde. Der Durchbruch kam für sie während der Pandemie. Zuvor hatte sie ohne großes Aufsehen in ihrer Gemeinde, Nachhilfestunden organisiert, für die offizielle Anerkennung des Parque das Tribos als indigenes Stadtviertel gekämpft und mit ihrem Modeatelier indigene Kultur nach Rio, Sao Paulo und sogar Europa gebracht. Aber erst, als in der Krise die Sauerstoffversorgung in Manaus zusammenbrach, zeigten TV-Sender in ganz Brasilien das Bild der indigenen Aktivistin. Die brasilianische Regierung hatte im Impfplan nur diejenigen Indigenen berücksichtigt, die in offiziell anerkannten Schutzgebieten leben – weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Vanda organisierte im Parque das Tribos ein improvisiertes Krankenhaus, Sauerstoffspenden und eine Basis-Gesundheitsversorgung. Außerdem war sie die erste geimpfte Indigene im Bundesstaat Amazonas. Dabei nutzte sie die Aufmerksamkeit der Presse, um in traditioneller Kleidung und Schmuck die Rechte ihres Volkes einzufordern. Mehr als ein Jahr später, umarmen sie im 850 Kilometer entfernten São Gabriel dafür mehrmals Menschen spontan auf der Straße. Vanda erwidert die Umarmungen so herzlich, als wolle sie allen zeigen, dass sich Brasiliens Indigene als eine einzige große Familie verstehen.

 

Aus dem politischen Nichts als indigene Kandidatin für den Kongress anzutreten verlangt einigen Mut. Erst recht im Bundesstaat Amazonas, dem größten des Landes, in dem Transport nur in der Luft und zu Wasser funktioniert. Ganz besonders innerhalb einer noch kleinen Partei wie der Rede Sustentabilidade. Rund eine Million Reais konnte die Partei ihr für den Wahlkampf zur Verfügung stellen – das reichte nur für den Besuch von einem Dutzend der insgesamt 164 indigenen Gebiete des Bundesstaates. Im Amazonas fehlen vielerorts eine zuverlässige Internetverbindung und der Zugang zu sozialen Netzen. Umso unverzichtbarer ist es, persönlich vor Ort zu sein. 

 

Da macht die volle Finanzkraft der Agrarlobby oft den entscheidenden Unterschied im Wahlkampf. Manchmal kaufen die „großen“ Kandidaten alle Plätze im Flugzeug auf, damit kein Konkurrent mitfliegen kann. Fast immer versuchen sie, in den Dörfern Chiefs dafür zu bezahlen, dass diese für sie Stimmen sammeln. Dafür verschenken sie Motoren für Fischerboote und volle Benzinkanister, finanzieren Fußballturniere und versprechen Jobs. Um dann meist nie wieder aufzutauchen – bis zur nächsten Wahl. „Trotz der katastrophalen Situation in Manaus während der Pandemie, trotz all der Skandale – etwa von überteuert eingekauften Sauerstoffgeräten, die nicht einmal funktionierten – wurden die gleichen Kandidaten mit hohen Stimmzahlen wieder gewählt. Diejenigen, die uns in der Misere sehen wollen, haben sich an der Macht gehalten“, konstatiert Vanda empört. In der aktuellen Wahl, für die auch Vanda kandidiert hat, wurden acht Männer aus dem rechten und gemäßigt rechten Spektrum wurden für den Bundesstaat.

 

Bis nach Irari sind die Agrarlobbyvertreter in diesem Wahlkampf nicht gelangt. Die Siedlung liegt am Fluss Içana, der wegen seiner vielen Stromschnellen und Wasserfälle schwer befahrbar ist und so die Indigenen vor manchen Eindringlingen schützt. Siebzehn Familien des Volkes Baniwa leben hier in bunt gestrichenen Häusern aus rohen Holzplanken auf sandigen Lichtungen zwischen Bananenstauden und schlanken Acaí-Palmen. Strom gibt es nur, wenn abends für ein paar Stunden der Generator läuft, Internet gibt es gar nicht. Die Besucher haben ihre Hängematten unter Blechdächern aufgeknüpft, die vor plötzlichen Regenfällen schützen. Auf der dicken Planke am Fluss waschen die Frauen Wäsche und erfrischen sich im klaren Wasser – wie vorher Vanda Witoto. Die Aktivistin ist übrigens ebenfalls an einem Flussufer und als Tochter eines Fischers, der seine sieben Kinder mühsam durch Fischfang und Ackerbau für den Eigenverbrauch über Wasser hielt, ganz ähnlich aufgewachsen.

 

In der Versammlungshütte sitzen seit dem frühen Morgen vielleicht hundert Baniwa, mehr Männer als Frauen, auf einfachen Holzbänken und lauschen konzentriert einem der Chiefs. Sie tragen kurze Haare zu Jeans und T-Shirt, mittags gibt es für alle Reis, Bohnen, Fleisch und Xibé, eine Art Suppe aus fermentiertem Maniok. Die Verpflegung und überhaupt das Treffen ist von der norwegischen Botschaft gesponsert. Gleichzeitig hält die norwegische Regierung ein Drittel der Aktien der Bergbaugesellschaft Hydro, die im Nachbarbundesstaat Pará für die Kontamination von Flüssen und Bleivergiftungen bei Bewohnern verantwortlich gemacht wird. Einer von vielen amazonischen Gegensätzen. Die Baniwa brauchen die Unterstützung. Ohne sie wären die Transportkosten wegen der hohen Benzinpreise unerschwinglich. Vanda trägt ihren Federschmuck, ihre Kette aus Samenschalen und ein weites Gewand aus ihrer Kollektion indigener Mode, Ateliê Derequine. Die Sonne ist längst im Içana versunken, als sie beginnt zu sprechen. 

 

Zuerst begrüßt sie die Anwesenden in ihrer Sprache, ehrt die Ahnen, die Frauen, die Jugend. Dann erzählt sie von ihrer Herkunft aus dem Dorf Colônia am Rio Solimões, im Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien, wo ihr Volk im Kautschukboom versklavt, ermordet und beinahe ausgelöscht wurden. Ihre Großeltern sprachen die eigene Sprache nur noch im Geheimen, und sie und ihre sechs Geschwister verdrängten ihre indigene Herkunft komplett. Vandas Gesicht verhärtet sich, wie zum Schutz vor der Erinnerung. Als Sechzehnjährige kommt sie nach Manaus, wo sie gegen Kost, Logis und ein Taschengeld sieben Tage in der Woche als Hausangestellte arbeitet. Vom Dienstherrn bedrängt und von der Chefin wegen ihrer indigenen Gesichtszüge als „Pitbullfratze“ gedemütigt, sagt die junge Frau nach außen hin jahrelang zu allem Ja und Amen – und absolviert insgeheim nach Dienstschluss eine Ausbildung zur Krankenschwester. Die Baniwa folgen Vandas Ausführungen gespannt, manche nicken, erkennen sich in den Erzählungen wieder. Draußen in der Nacht riecht es nach dem Küchenfeuer, es erklingen die Stimmen der Frösche, Nachtvögel beginnen zu rufen.

 

„Die ganze Welt redet vom Klima und vom Umweltschutz, aber wer redet von uns, den indigenen Völkern?“, ruft Vanda Witoto und ihre Augen blitzen. „Um den Wald zu schützen, müssen wir zuerst unsere Völker schützen, die den Wald pflegen! Wir brauchen mehr indigene Schulen, eine gut ausgestattete dezentrale Gesundheitsversorgung und vor allem neue Führungspersönlichkeiten, die nachrücken, wenn die Alten wegsterben.“ Allgemeine Zustimmung. Eine Frau bittet ums Wort und erzählt, sichtlich bewegt, wie sie ihre kranken Eltern per Boot nach Manaus ins Krankenhaus bringen musste, weil es nur dort Hilfe gab. Eine Lehrerin berichtet, dass es in der Schule an den einfachsten Lehrmaterialien fehlt. „Die aktuelle Politik schwächt die indigenen Territorien“, sagt Vanda, „die Gesetze dieser Regierung zielen darauf ab, uns auszulöschen.“ Und das könne nur durch Politik anders werden. „Dafür stelle ich mich zur Verfügung. Aber ich brauche Eure Hilfe“. Für diese Worte erntet sie Beifallsgemurmel. „Wir werden dich unterstützen, unser Wort hast du“, erklärt der Chief zum Abschluss des Abends. Vanda strahlt und dankt für das Vertrauen.

 

In der Geschichte Brasiliens hatten es bislang nur zwei Indigene in den Kongress geschafft: zuerst Mario Juruna im Jahr 1983, der von vielen als exotische Folklorefigur ohne echten Einfluss abgetan wurde. Und in der aktuellen Regierungsperiode Joênia Wapichana, eine versierte Anwältin mit US-Diplom, die ihre Abgeordneten-Kollegen knallhart mit ihren Forderungen konfrontiert. Obwohl sie 2022 mehr Stimmen bekam als vor vier Jahren, hat Joenia die Wiederwahl nicht geschafft. Die Gesamtstimmzahl ihrer Partei, der Rede Sustentabilidade, erreichte nicht die nach dem Quotienten notwendige Mindeststimmenzahl, um überhaupt Abgeordnete entsenden zu können. Trotzdem war die Wahl 2022 ein großer Erfolg für die indigenen Völker, die mit 178 Kandidaten mehr Volksvertreter denn je aufgestellt hatten. Neun Indigene wurden gewählt, damit steigt die Anzahl indigener Volksvertreter um 900 Prozent. Für die meisten Kandidaten war diese die erste Wahl. Fast alle schlossen sich linken Parteien an wie der Arbeiterpartei PT, der ebenfalls linken PSOL und der grünen Rede Sustentabilidade. Nur die Berufssoldatin Silvia Waiapi, die für den Bundesstaat Amapa gewählt wurde, ist Mitglied in der Partei PL, der auch Bolsonaros angehört, und eine eiserne Verfechtung von dessen Ideen.  Alle anderen VertreterInnen der „Bancada do cocar“ (sinngemäß: Federschmuck-Lobby) verfechten ihr gemeinsames Ziel in Opposition zur Mehrheit der Agrarlobby: indigene Politik soll nicht länger von Nicht-Indigenen bestimmt und die unzähligen Dekrete, mit denen die Regierung Bolsonaro die brasilianische Umweltgesetzgebung ausgehöhlt hat, sollen Stück für Stück rückgängig gemacht werden. „Die indigene Präsenz macht einen riesigen Unterschied, aber wir brauchen viele Abgeordnete, um besser sichtbar zu werden“, sagt die Aktivistin Sonia Guajajara, die für den Wahlkreis São Paulo gewählt wurde. 

 

Zur Sichtbarkeit gehört auch, dass sich immer mehr Indigene überhaupt als solche erkennen. In Jahrhunderten der Verfolgung wurde neben Tausenden Menschenleben ebenfalls die kulturelle Identität der Überlebenden ausgelöscht. Vanda Witoto erwacht sozusagen durch die Frage eines Studienkollegen: „Warum beantragst du als Indigene eigentlich kein Stipendium?“. Erst da begreift sie in aller Konsequenz, dass sie indigener Herkunft ist, und macht fortan ihrem indigenen Vornamen Derequine - „wilde Ameise“- alle Ehre. Sie verlässt die Pfingstkirche, der sie bis dahin angehört hatte, weil sie dort ihren Federschmuck und die Gesichtsbemalung nicht tragen darf, fordert als Studentenführerin mehr Stipendien sowie Unterkunft und Verpflegung und wird bald überall als Führungspersönlichkeit anerkannt. Ihr Mann, Sidnei dos Santos, ein großer dunkelblonder Monteur aus dem Süden Brasiliens erzählt grinsend: „Bei der Hochzeit vor zehn Jahren dachte ich noch, meine Frau wäre asiatischer Herkunft.“ Vanda ist nicht die Einzige, die den Stolz auf ihre Herkunft wieder gefunden hat: bei der nächsten Volkszählung, die für 2023 geplant ist, erwarten Beobachter, dass in Manaus anstatt 7000 Menschen - Zahl aus dem Jahr 2010 - mehr als 30.000 sich selbst als indigen bezeichnen werden. 

 

Vandas Besuch in Irari ist inzwischen Monate her, die Wahl ist vorbei, und die indigenen Völker atmen auf. Amazonasgegner Jair Bolsonaro hat die Wiederwahl nicht geschafft, stattdessen wird Luis Inacio Lula da Silva im Januar 2023 seine dritte Amtszeit antreten. Während der ersten beiden Mandate hatte der linke Lula sich nicht immer für die indigene Bevölkerung eingesetzt. So trieb er etwa die Realisierung des Mega-Wasserkraftwerks Belo Monte am Xingu-Fluss trotz dessen unermesslicher Umweltzerstörung voran und sagte in einem Interview kürzlich sogar, er würde das Werk wieder befürworten. Gleichzeitig wurden in seiner Regierungszeit immerhin 87 indigene Gebiete ausgewiesen, und im Jahr 2008 wurde der Fundo Amazonia gegründet, der mit Spenden aus Norwegen und Deutschland seitdem mehr als 100 Projekte zum Schutz des Regenwalds finanziert hat. Jair Bolsonaro strukturierte den Fonds 2019 so um, dass die Spender sich zurückzogen. Direkt nach der jetzigen Wahl hat Norwegen bereits Verhandlungen zur Wiederaufnahme der Zusammenarbeit angekündigt. 

 

Und wie geht es für Vanda Witoto weiter? „Ich werde mich auf jeden Fall politisch weiterbilden“, sagt sie. Der Wahlkampf sei in vieler Hinsicht prägend gewesen. Von positiven Erfahrungen wie den zahlreichen Dialogen mit verschiedenen Volksgruppen in deren Territorien, bis zu negativen, wie den Anfeindungen, vor allem von Bolsonaro-Anhängern, aber auch von indigenen Männern, die es nicht ertragen konnten, eine starke Frau auf ihrem Weg zu sehen. „Ich werde weiterhin hier als Aktivistin für mein Volk kämpfen, besonders für die Frauen und die Jugend. Ich will politische Bildung in die Dörfer bringen – und in zwei Jahren für den Stadtrat in Manaus kandidieren“, erklärt Vanda, und fügt lächelnd hinzu: „Meine Großmutter hat 87 Jahre lang geschwiegen, um zu überleben. Ich werde nie wieder schweigen.“ 

 

Der Kampf der Vanda Witoto

Von den Herausforderungen für indigene KandidatInnen in Brasilien

 

Vanda Witoto hat gewonnen. Nicht die Wahl. Die Kandidatin wird im Januar 2023 nicht als Abgeordnete für den Kongress nach Brasilia einziehen. Aber sie hat als erste indigene Einzel-Kandidatin mehr als 25.000 Stimmen im Bundesstaat Amazonas erzielt. Hier leben mehr Indigene als irgendwo sonst in Brasilien, doch noch nie in der Geschichte des Landes wurde vom Amazonas ein Repräsentant in den Kongress entsandt. Vanda Witoto ist 35 Jahre alt, ausgebildete Lehrerin, aktive Krankenschwester und unermüdliche Aktivistin. Sie hatte bisher kein politisches Amt inne und trat für die 2013 von der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva gegründete Partei „Rede Sustentabilidade“ (sinngemäß etwa: Netzwerk für Nachhaltigkeit) an. Dass eine politisch unerfahrene junge Indigene in diesem von illegalen Goldschürfern, Holzhändlern, Sojapflanzern und Rinderzüchtern dominierten Bundesstaat auf Anhieb mehr als 25.000 Stimmen bekommt, ist ein phänomenaler Sieg.

 

Im Juni macht Vanda beim Prä-Wahlkampf ihre ersten Schritte als Politikerin. Dabei trägt sie ihre traditionelle Gesichtsbemalung, traditionelle Muster zieren auch ihre Kleidung, genäht von ihren Teilhaberinnen im Modeatelier Derequine. Die Kandidatin steht zu ihrer Herkunft, zeigt offen ihre Kultur – auch wenn sie damit in Manaus auf Ablehnung stoßen kann. In Irari, einer indigenen Siedlung im Grenzgebiet zu Kolumbien und Venezuela, wird sie ihre Kandidatur Vertretern von 80 indigenen Gemeindevertretern vorstellen, die an diesem Wochenende eine Versammlung abhalten.

 

Vor dem Treffen nimmt Vanda ein letztes Bad im Fluss, wie immer, wenn sich dazu eine Gelegenheit bietet. „Der Fluss gibt mir Kraft“, sagt sie oft. Langsam steigt sie in die Fluten. Sie streichelt das Wasser. Schließt die Augen. Bedankt sich murmelnd. Dann taucht sie unter. Als sie wieder auftaucht, lacht sie ihr strahlendes Lächeln und es ist ihr nicht anzusehen, dass sie seit Wochen kaum eine freie Minute findet. Dass sie eigentlich zwei Tage früher hier sein sollte, aber das Flugzeug wegen Starkregens nicht in der Kreisstadt São Gabriel da Cachoeira landen konnte. Vanda ist verspätet im Dorf Irari angekommen, ihr ohnehin enger Zeitplan wird noch enger, die Planung geht nicht mehr auf: Wollte sie mit dem eigentlich geplanten Bootstransport zurückfahren, müsste sie sofort nach der Ankunft wieder los, ohne überhaupt zu den Chiefs gesprochen zu haben. Vanda taucht erneut unter, kommt wieder hoch, wirft ihr hüftlanges Haar zurück und stapft zum Ufer. Von so einer Kleinigkeit lässt sie sich nicht aufhalten.

 

Wer Vanda kennenlernt, mit ihrem einnehmenden Lachen, ihrer klaren, fokussierten Art zu sprechen, mit ihrer natürlichen Empathie und ihrem Charisma – der wundert sich, dass die Vertreterin des Volkes der Witoto erst jetzt brasilienweit bekannt wurde. Der Durchbruch kam für sie während der Pandemie. Zuvor hatte sie ohne großes Aufsehen in ihrer Gemeinde, Nachhilfestunden organisiert, für die offizielle Anerkennung des Parque das Tribos als indigenes Stadtviertel gekämpft und mit ihrem Modeatelier indigene Kultur nach Rio, Sao Paulo und sogar Europa gebracht. Aber erst, als in der Krise die Sauerstoffversorgung in Manaus zusammenbrach, zeigten TV-Sender in ganz Brasilien das Bild der indigenen Aktivistin. Die brasilianische Regierung hatte im Impfplan nur diejenigen Indigenen berücksichtigt, die in offiziell anerkannten Schutzgebieten leben – weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Vanda organisierte im Parque das Tribos ein improvisiertes Krankenhaus, Sauerstoffspenden und eine Basis-Gesundheitsversorgung. Außerdem war sie die erste geimpfte Indigene im Bundesstaat Amazonas. Dabei nutzte sie die Aufmerksamkeit der Presse, um in traditioneller Kleidung und Schmuck [MOU1] die Rechte ihres Volkes einzufordern. Mehr als ein Jahr später, umarmen sie im 850 Kilometer entfernten São Gabriel dafür mehrmals Menschen spontan auf der Straße. Vanda erwidert die Umarmungen so herzlich, als wolle sie allen zeigen, dass sich Brasiliens Indigene als eine einzige große Familie verstehen.

 

Aus dem politischen Nichts als indigene Kandidatin für den Kongress anzutreten verlangt einigen Mut. Erst recht im Bundesstaat Amazonas, dem größten des Landes, in dem Transport nur in der Luft und zu Wasser funktioniert. Ganz besonders innerhalb einer noch kleinen Partei wie der Rede Sustentabilidade. Rund eine Million Reais konnte die Partei ihr für den Wahlkampf zur Verfügung stellen – das reichte nur für den Besuch von einem Dutzend der insgesamt 164 indigenen Gebiete des Bundesstaates. Im Amazonas fehlen vielerorts eine zuverlässige Internetverbindung und der Zugang zu sozialen Netzen. Umso unverzichtbarer ist es, persönlich vor Ort zu sein. 

 

Da macht die volle Finanzkraft der Agrarlobby oft den entscheidenden Unterschied im Wahlkampf. Manchmal kaufen die „großen“ Kandidaten alle Plätze im Flugzeug auf, damit kein Konkurrent mitfliegen kann. Fast immer versuchen sie, in den Dörfern Chiefs dafür zu bezahlen, dass diese für sie Stimmen sammeln. Dafür verschenken sie Motoren für Fischerboote und volle Benzinkanister, finanzieren Fußballturniere und versprechen Jobs. Um dann meist nie wieder aufzutauchen – bis zur nächsten Wahl. „Trotz der katastrophalen Situation in Manaus während der Pandemie, trotz all der Skandale – etwa von überteuert eingekauften Sauerstoffgeräten, die nicht einmal funktionierten – wurden die gleichen Kandidaten mit hohen Stimmzahlen wieder gewählt. Diejenigen, die uns in der Misere sehen wollen, haben sich an der Macht gehalten“, konstatiert Vanda empört. In der aktuellen Wahl, für die auch Vanda kandidiert hat, wurden acht Männer aus dem rechten und gemäßigt rechten Spektrum wurden für den Bundesstaat.

 

Bis nach Irari sind die Agrarlobbyvertreter in diesem Wahlkampf nicht gelangt. Die Siedlung liegt am Fluss Içana, der wegen seiner vielen Stromschnellen und Wasserfälle schwer befahrbar ist und so die Indigenen vor manchen Eindringlingen schützt. Siebzehn Familien des Volkes Baniwa leben hier in bunt gestrichenen Häusern aus rohen Holzplanken auf sandigen Lichtungen zwischen Bananenstauden und schlanken Acaí-Palmen. Strom gibt es nur, wenn abends für ein paar Stunden der Generator läuft, Internet gibt es gar nicht. Die Besucher haben ihre Hängematten unter Blechdächern aufgeknüpft, die vor plötzlichen Regenfällen schützen. Auf der dicken Planke am Fluss waschen die Frauen Wäsche und erfrischen sich im klaren Wasser – wie vorher Vanda Witoto. Die Aktivistin ist übrigens ebenfalls an einem Flussufer und als Tochter eines Fischers, der seine sieben Kinder mühsam durch Fischfang und Ackerbau für den Eigenverbrauch [MOU2] über Wasser hielt, ganz ähnlich aufgewachsen.

 

In der Versammlungshütte sitzen seit dem frühen Morgen vielleicht hundert Baniwa, mehr Männer als Frauen, auf einfachen Holzbänken und lauschen konzentriert einem der Chiefs. Sie tragen kurze Haare zu Jeans und T-Shirt, mittags gibt es für alle Reis, Bohnen, Fleisch und Xibé, eine Art Suppe aus fermentiertem Maniok. Die Verpflegung und überhaupt das Treffen ist von der norwegischen Botschaft gesponsert. Gleichzeitig hält die norwegische Regierung ein Drittel der Aktien der Bergbaugesellschaft Hydro, die im Nachbarbundesstaat Pará für die Kontamination von Flüssen und Bleivergiftungen bei Bewohnern verantwortlich gemacht wird. Einer von vielen amazonischen Gegensätzen. Die Baniwa brauchen die Unterstützung. Ohne sie wären die Transportkosten wegen der hohen Benzinpreise unerschwinglich. Vanda trägt ihren Federschmuck, ihre Kette aus Samenschalen und ein weites Gewand aus ihrer Kollektion indigener Mode, Ateliê Derequine. Die Sonne ist längst im Içana versunken, als sie beginnt zu sprechen. 

 

Zuerst begrüßt sie die Anwesenden in ihrer Sprache, ehrt die Ahnen, die Frauen, die Jugend. Dann erzählt sie von ihrer Herkunft aus dem Dorf Colônia am Rio Solimões, im Grenzgebiet zu Peru und Kolumbien, wo ihr Volk im Kautschukboom versklavt, ermordet und beinahe ausgelöscht wurden. Ihre Großeltern sprachen die eigene Sprache nur noch im Geheimen, und sie und ihre sechs Geschwister verdrängten ihre indigene Herkunft komplett. Vandas Gesicht verhärtet sich, wie zum Schutz vor der Erinnerung. Als Sechzehnjährige kommt sie nach Manaus, wo sie gegen Kost, Logis und ein Taschengeld sieben Tage in der Woche als Hausangestellte arbeitet. Vom Dienstherrn bedrängt und von der Chefin wegen ihrer indigenen Gesichtszüge als „Pitbullfratze“ gedemütigt, sagt die junge Frau nach außen hin jahrelang zu allem Ja und Amen – und absolviert insgeheim nach Dienstschluss eine Ausbildung zur Krankenschwester. Die Baniwa folgen Vandas Ausführungen gespannt, manche nicken, erkennen sich in den Erzählungen wieder. Draußen in der Nacht riecht es nach dem Küchenfeuer, es erklingen die Stimmen der Frösche, Nachtvögel beginnen zu rufen.

 

„Die ganze Welt redet vom Klima und vom Umweltschutz, aber wer redet von uns, den indigenen Völkern?“, ruft Vanda Witoto und ihre Augen blitzen. „Um den Wald zu schützen, müssen wir zuerst unsere Völker schützen, die den Wald pflegen! Wir brauchen mehr indigene Schulen, eine gut ausgestattete dezentrale Gesundheitsversorgung und vor allem neue Führungspersönlichkeiten, die nachrücken, wenn die Alten wegsterben.“ Allgemeine Zustimmung. Eine Frau bittet ums Wort und erzählt, sichtlich bewegt, wie sie ihre kranken Eltern per Boot nach Manaus ins Krankenhaus bringen musste, weil es nur dort Hilfe gab. Eine Lehrerin berichtet, dass es in der Schule an den einfachsten Lehrmaterialien fehlt. „Die aktuelle Politik schwächt die indigenen Territorien“, sagt Vanda, „die Gesetze dieser Regierung zielen darauf ab, uns auszulöschen.“ Und das könne nur durch Politik anders werden. „Dafür stelle ich mich zur Verfügung. Aber ich brauche Eure Hilfe“. Für diese Worte erntet sie Beifallsgemurmel. „Wir werden dich unterstützen, unser Wort hast du“, erklärt der Chief zum Abschluss des Abends. Vanda strahlt und dankt für das Vertrauen.

 

In der Geschichte Brasiliens hatten es bislang nur zwei Indigene in den Kongress geschafft: zuerst Mario Juruna im Jahr 1983, der von vielen als exotische Folklorefigur ohne echten Einfluss abgetan wurde. Und in der aktuellen Regierungsperiode Joênia Wapichana, eine versierte Anwältin mit US-Diplom, die ihre Abgeordneten-Kollegen knallhart mit ihren Forderungen konfrontiert. Obwohl sie 2022 mehr Stimmen bekam als vor vier Jahren, hat Joenia die Wiederwahl nicht geschafft. Die Gesamtstimmzahl ihrer Partei, der Rede Sustentabilidade, erreichte nicht die nach dem Quotienten notwendige Mindeststimmenzahl, um überhaupt Abgeordnete entsenden zu können. Trotzdem war die Wahl 2022 ein großer Erfolg für die indigenen Völker, die mit 178 Kandidaten mehr Volksvertreter denn je aufgestellt hatten. Neun Indigene wurden gewählt, damit steigt die Anzahl indigener Volksvertreter um 900 Prozent. Für die meisten Kandidaten war diese die erste Wahl. Fast alle schlossen sich linken Parteien an wie der Arbeiterpartei PT, der ebenfalls linken PSOL und der grünen Rede Sustentabilidade. Nur die Berufssoldatin Silvia Waiapi, die für den Bundesstaat Amapa gewählt wurde, ist Mitglied in der Partei PL, der auch Bolsonaros angehört, und eine eiserne Verfechtung von dessen Ideen.  Alle anderen VertreterInnen der „Bancada do cocar“ (sinngemäß: Federschmuck-Lobby) verfechten ihr gemeinsames Ziel in Opposition zur Mehrheit der Agrarlobby: indigene Politik soll nicht länger von Nicht-Indigenen bestimmt und die unzähligen Dekrete, mit denen die Regierung Bolsonaro die brasilianische Umweltgesetzgebung ausgehöhlt hat, sollen Stück für Stück rückgängig gemacht werden. „Die indigene Präsenz macht einen riesigen Unterschied, aber wir brauchen viele Abgeordnete, um besser sichtbar zu werden“, sagt die Aktivistin Sonia Guajajara, die für den Wahlkreis São Paulo gewählt wurde. 

 

Zur Sichtbarkeit gehört auch, dass sich immer mehr Indigene überhaupt als solche erkennen. In Jahrhunderten der Verfolgung wurde neben Tausenden Menschenleben ebenfalls die kulturelle Identität der Überlebenden ausgelöscht. Vanda Witoto erwacht sozusagen durch die Frage eines Studienkollegen: „Warum beantragst du als Indigene eigentlich kein Stipendium?“. Erst da begreift sie in aller Konsequenz, dass sie indigener Herkunft ist, und macht fortan ihrem indigenen Vornamen Derequine - „wilde Ameise“- alle Ehre. Sie verlässt die Pfingstkirche, der sie bis dahin angehört hatte, weil sie dort ihren Federschmuck und die Gesichtsbemalung nicht tragen darf, fordert als Studentenführerin mehr Stipendien sowie Unterkunft und Verpflegung und wird bald überall als Führungspersönlichkeit anerkannt. Ihr Mann, Sidnei dos Santos, ein großer dunkelblonder Monteur aus dem Süden Brasiliens erzählt grinsend: „Bei der Hochzeit vor zehn Jahren dachte ich noch, meine Frau wäre asiatischer Herkunft.“ Vanda ist nicht die Einzige, die den Stolz auf ihre Herkunft wieder gefunden hat: bei der nächsten Volkszählung, die für 2023 geplant ist, erwarten Beobachter, dass in Manaus anstatt 7000 Menschen - Zahl aus dem Jahr 2010 - mehr als 30.000 sich selbst als indigen bezeichnen werden. 

 

Vandas Besuch in Irari ist inzwischen Monate her, die Wahl ist vorbei, und die indigenen Völker atmen auf. Amazonasgegner Jair Bolsonaro hat die Wiederwahl nicht geschafft, stattdessen wird Luis Inacio Lula da Silva im Januar 2023 seine dritte Amtszeit antreten. Während der ersten beiden Mandate hatte der linke Lula sich nicht immer für die indigene Bevölkerung eingesetzt. So trieb er etwa die Realisierung des Mega-Wasserkraftwerks Belo Monte am Xingu-Fluss trotz dessen unermesslicher Umweltzerstörung voran und sagte in einem Interview kürzlich sogar, er würde das Werk wieder befürworten. Gleichzeitig wurden in seiner Regierungszeit immerhin 87 indigene Gebiete ausgewiesen, und im Jahr 2008 wurde der Fundo Amazonia gegründet, der mit Spenden aus Norwegen und Deutschland seitdem mehr als 100 Projekte zum Schutz des Regenwalds finanziert hat. Jair Bolsonaro strukturierte den Fonds 2019 so um, dass die Spender sich zurückzogen. Direkt nach der jetzigen Wahl hat Norwegen bereits Verhandlungen zur Wiederaufnahme der Zusammenarbeit angekündigt. 

 

Und wie geht es für Vanda Witoto weiter? „Ich werde mich auf jeden Fall politisch weiterbilden“, sagt sie. Der Wahlkampf sei in vieler Hinsicht prägend gewesen. Von positiven Erfahrungen wie den zahlreichen Dialogen mit verschiedenen Volksgruppen in deren Territorien, bis zu negativen, wie den Anfeindungen, vor allem von Bolsonaro-Anhängern, aber auch von indigenen Männern, die es nicht ertragen konnten, eine starke Frau auf ihrem Weg zu sehen. „Ich werde weiterhin hier als Aktivistin für mein Volk kämpfen, besonders für die Frauen und die Jugend. Ich will politische Bildung in die Dörfer bringen – und in zwei Jahren für den Stadtrat in Manaus kandidieren“, erklärt Vanda, und fügt lächelnd hinzu: „Meine Großmutter hat 87 Jahre lang geschwiegen, um zu überleben. Ich werde nie wieder schweigen.“ 


 

Foto: Tuane Fernandes
Brasilien-Nachrichten Dezember 2022