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Mit einem großen Heftpflaster einen gewaltsamen Tod verschleiern? Das hätte beinahe geklappt. Nur die zweite Leichenschau im Krematorium kam dazwischen. Der Hausarzt hatte dem Verstorbenen bei der obligatorischen ersten Leichenschau einen natürlichen Tod bescheinigt. "Vermutlich hatte er die Leiche nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, entkleidet", nimmt Marcel A. Verhoff an. Er ist Direktor des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Frankfurt und sollte die Todesart vor der Einäscherung bestätigen. "Das Pflaster sah schon recht seltsam aus, es war aus Klebestreifen und Taschentüchern gebastelt und sehr straff geklebt", sagt Verhoff. Als er das Pflaster ablöste, kam eine Stichwunde im Brustbereich zum Vorschein. Ein natürlicher Tod war das nicht.
So große Fehler unterlaufen Ärzten in Deutschland bei der gesetzlich vorgeschriebenen Leichenschau wohl eher selten. Allerdings lässt die Sorgfalt der Mediziner öfter als gedacht zu Wünschen übrig, sind sich Fachleute einig.
Eine Studie aus dem Journal "Archiv für Kriminologie", an der mehrere Rechtsmedizinische Institute aus Deutschland mitgewirkt hatten, kam bereits 1997 zu einem ernüchternden Schluss: Rund 11.000 nicht natürliche Todesfälle und 1200 Tötungsdelikte werden pro Jahr nicht erkannt.
Denn häufig vermerken Ärzte als Todesursache Herzstillstand oder das Versagen der Organe. Einfach die häufigsten Todesursachen - diese sind in Deutschland seit Jahren Herz-Kreislauf-Erkrankungen - in das Formular zu schreiben reicht nicht aus. Auch ungenaue Pauschalangaben sind problematisch. "Für die Statistik sind 'Herzstillstand' oder 'Multiorganversagen' nicht verwertbar", sagt Torsten Schelhase vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Denn es erkläre sich von selbst, dass bei einem Toten das Herz aufgehört hat zu schlagen und die Organe versagten.
"Trotzdem finden sich diese Todesursachen häufig auf den Totenscheinen. Dies spiegelt die Unsicherheit der Ärzte bei der Bestimmung der Todesursache wieder", sagte Schelhase. Bei der Leichenschau dürfe aber nicht einfach gelten: Tot ist tot. Ärzte sollten sie eher als letzten Dienst an ihrem Patienten sehen und genauso sorgfältig dabei vorgehen wie bei der Behandlung zu dessen Lebzeiten. "Im Moment ist die Todesursachenstatistik in Deutschland reine Augenwischerei", sagt Verhoff.
Richtige ReihenfolgeDas Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Dimdi) will die Ärzte für die Thematik sensibilisieren und mit einer Kampagne über das korrekte Ausfüllen einer Todesbescheinigung aufklären.
Zuerst muss der Arzt sichere äußere Anzeichen für den Tod feststellen. Dazu untersucht er den Körper des Verstorbenen nach Totenflecken, prüft, wie weit die Leichenstarre eingetreten ist, oder erkennt Leichenfäulnis.
Im nächsten Schritt bestimmt der Mediziner die Todesart der Leiche - er gibt also an, ob es ein natürlicher, nicht natürlicher oder ungeklärter Tod ist. Bei nicht natürlicher und ungeklärter Todesart muss die Polizei gerufen werden.
Statistisch besonders relevant ist die Todesursache. Dafür sollte der Mediziner die Krankenakte des Toten kennen. Denn er beschreibt den Verlauf der Krankheiten, die mittelbar oder unmittelbar zum Tod führten, möglichst genau. Aus dieser Schilderung, von Fachleuten Kausalkette genannt, bestimmt das Dimdi das Grundleiden des Verstorbenen. Dieses wird als Todesursache in die Statistik aufgenommen.
Wertlose StatistikDoch wenn diese Kausalkette für die Kodierer des Dimdi nicht erkennbar ist, wird die Todesursache zur Spekulation - die Statistik verliert an Wert. "Dabei dienen die Zahlen der Todesursachenstatistik als Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen", sagt Torsten Schelhase.
So lässt sich in der Todesursachenstatistik der Gesundheitsstatus einer Gesellschaft erkennen. Ende der 1960er-Jahre etwa zeichnete sich sogar die Emanzipation der Frau in der Statistik ab, sagt Schelhase. Viele Frauen begannen damals mit dem Rauchen - und starben an Lungenkrebs. Die Todesursachenstatistik beeinflusst vor allem Entscheidungen der Präventions- und Früherkennungspolitik. "Man möchte damit die vermeidbaren Todesfälle verringern", sagt Schelhase. "Bei Frauen steht heute die Vorsorge gegen Brustkrebs an erste Stelle, bei Männern sind es Prostata- und Darmkrebs."
Solche Zusammenhänge sind nicht das Einzige, was die Statistik offenbaren kann. Doch es fällt häufig schwer, relevante Daten aus jedem der über 850.000 Totenscheine, die pro Jahr in Deutschland ausgestellt werden, herauszulesen. "Den Kodierern bereiten vor allem unleserliche Schrift und unvollständige oder nichtssagende Pauschalangaben Probleme", sagt Frauke Thiel, die Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Dimdi ist.
Keine Verbesserung in Sicht?Der Leitfaden des Instituts soll es den Ärzten bei der Leichenschau nun leichter machen, die richtigen Stichworte in der korrekten Reihenfolge in den Totenschein einzutragen. Damit wären entscheidende Daten von den Kodierern des Dimdi leichter zu erfassen. "Ich bezweifle, dass sich dadurch die Qualität der Leichenschau verbessert", sagt aber Dominik Groß. Der Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der RWTH Aachen beschäftigt sich mit der Geschichte der Leichenschau.
Grundlegend bei einer Leichenschau ist es, den Verstorbenen vollständig zu entkleiden. In den meisten Leichenschauverordnungen der einzelnen Bundesländer ist zudem geregelt, dass alle Körperregionen miteinbezogen werden. Die bayerische Bestattungsverordnung verweist beispielsweise besonders auf den Rücken, die behaarte Kopfhaut und alle Körperöffnungen.
"Oft stehen dem Arzt Pietät oder Scham im Weg", sagt Dominik Groß. Der Mediziner, meist der Hausarzt, werde nach dem Tod eines Menschen zu einer Familie in einer emotionalen Extremsituation gerufen. Da sei es schwierig, immer nach Vorschrift zu handeln. So werde die Aufforderung an die Angehörigen, bei der Leichenschau den Raum zu verlassen, von ihnen häufig als Zumutung empfunden. "Da ist es leichter, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und eine 'Leichenschau light' durchzuführen", sagt Groß.
Hauptamtlicher LeichenbeschauerÄrzte stoßen aber nicht nur auf zwischenmenschliche Schwierigkeiten. Es komme zum Beispiel vor, dass ein Augenarzt im Rahmen des ärztlichen Notfalldienstes zur Leichenschau gerufen werde, sagt Groß. In seinem Berufsalltag sieht er naturgemäß wenige Todesfälle. "Da fehlt dann einfach die Erfahrung." Jeder Medizinstudent lernt zwar während seines Studiums die Grundlagen der Leichenschau. Wenn das Wissen über Jahre nicht angewandt wird, etwa weil der Mediziner als Facharzt arbeitet, geht es einfach verloren. Zudem wird die Leichenschau mit 14,57 bis 33,51 Euro pro Verstorbenem schlecht vergütet.
Eine Lösung für das Dilemma wäre, wie in Großbritannien, einen "Coroner" einzuführen, also einen professionellen Leichenbeschauer. Schon im Jahr 2008 strebte eine Arbeitsgruppe der Justizministerkonferenz eine Entkopplung von Todesfeststellung und dem Bestimmen der Todesursache an. Kurz vor der Einführung scheiterte das Gesetz an der Zustimmung der Länder.
Dominik Groß und Torsten Schelhase sehen zudem Vorteile in einer verpflichtenden Obduktion. Bei einer Öffnung des Leichnams können Ärzte die Todesursachen sicherer feststellen als bei einer äußerlichen Leichenschau. "Nur durch eine Obduktion kann die Todesursache mit Sicherheit geklärt werden", sagt Rechtsmediziner Verhoff. Eine Pflichtobduktion sei aber aus finanziellen Gründen nicht umzusetzen, sagt Schelhase. Sie kostet in der Rechtsmedizin etwa 950 Euro. Wenn die Leichenöffnung gerichtlich angeordnet wurde, zahlt die öffentliche Hand eine Sachverständigenentschädigung von 850 Euro. Die Rechtsmedizinischen Institute können damit ihre Ausgaben nicht decken. "Um trotzdem kostendeckend zu arbeiten, müssen meine Angestellten und ich Überstunden leisten", sagt Verhoff.
Mehr Sektionen gefordertAuch die Kosten einer Obduktion, die nach einem vermuteten natürlichen Tod eines Patienten im Krankenhaus in der Pathologie durchgeführt wird, übernimmt die öffentliche Hand. Der Ausnahmefall ist eine Sektion, die ausschließlich von den Angehörigen gewünscht wird. Diese müssen die Hinterbliebenen selbst bezahlen. Über die gesetzlichen Krankenkassen kann nichts abgerechnet werden, da der Versichertenstatus mit dem Tod erlischt.
Schelhase vom Statistischen Bundesamt fordert in zwei Situationen eine verpflichtende Sektion: Wenn sich der Arzt bei der Todesursache unsicher ist oder der Verstorbene jünger als 60 Jahre. "Diese Altersgrenze ist willkürlich. Ist man mit über 60 dann alt?", fragt Rechtsmediziner Verhoff. Er wäre zufrieden, wenn jeder Tote unter 18 Jahren und jeder überraschend Verstorbene obduziert würde. Aber eine Verpflichtung zur Sektion ist nicht nur aus finanziellen Gründen nicht möglich.
Denn die Gesetzeslage in Deutschland sieht vor, dass entweder der Verstorbene selbst vor seinem Ableben oder seine Angehörigen nach dem Tod entscheiden, ob eine Sektion vorgenommen werden soll. "Das müssen wir dem Opa nicht auch noch antun", - diesen Satz hörte Marcel Verhoff öfter, als er noch im Krankenhaus arbeitete und versuchte, Angehörige verstorbener Patienten von einer Obduktion zu überzeugen. Sie lehnen eine Sektion meistens ab. "In dieser emotionalen Verlustsituation sehen sie den Nutzen nicht, den eine Obduktion brächte", sagt Verhoff.
Unklare Todesursache sollte immer überprüft werdenDie Angehörigen stimmen einer Obduktion bei einem Tötungsdelikt, einem ungeklärten Todesfall oder bei einem vermuteten Kunstfehler des behandelten Arztes zu. "Oft steht auch ein rein monetäres Interesse dahinter", sagt Verhoff. Denn wenn durch eine Obduktion beispielsweise belegt wird, dass eine Person wegen widriger Arbeitsumstände an einer Berufskrankheit verstarb, erhalten die Hinterbliebenen eine Rente.
Ein Lungentumor eines Arbeiters, der mit Asbest zu tun hatte und nicht behandelt wurde, werde bei einer Leichenschau von außen übersehen, sagt Verhoff. "So können die Angehörigen nicht zu ihrem Recht kommen." Trotzdem werden in Deutschland jährlich nur zwischen ein und zwei Prozent der Verstorbenen obduziert.
Dabei ist es nicht nur für die Familien relevant, zu wissen, woran ein Mensch gestorben ist. Eine Sektion sei für eine Klinik das wichtigste Instrument zur Qualitätssicherung, sagt Verhoff. Nur wenn das Krankenhaus nachprüfen kann, ob die behandelte Krankheit zum Tod geführt hat, könnte sich die Arbeit im Klinikalltag verbessern. Im schlimmsten Fall werden Fehler in der Behandlung sonst nicht aufgedeckt.
Immerhin: Aus christlicher Sicht spricht nichts gegen eine Öffnung des Leichnams. Die Kirchen in Deutschland werten eine Obduktion als Akt der Nächstenliebe. Denn die gewonnen Erkenntnisse förderten das Gemeinwohl.
Nicht nur Tötungsdelikte, sondern auch Unfälle werden bei einer oberflächlich durchgeführten Leichenschau übersehen. "Ich weiß von einer Frau, die tot in ihrer Badewanne gefunden wurde - keine Spur von Fremdeinwirkung", sagt Verhoff. Trotzdem war es kein natürlicher Tod. "Sie starb an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Die Gastherme zum Erhitzen des Wassers war nicht richtig angeschlossen." Auch ein Nachmieter kann von der korrekt bestimmten Todesursache profitieren.