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Schilddrüsen werden in Deutschland zu oft operiert

Etwa 150.000 Patienten werden in Deutschland jährlich wegen Knoten in der Schilddrüse behandelt. Den meisten Betroffenen entfernen Ärzte bei einer Operation Teile der Schilddrüse oder sogar das ganze Organ. Eine aktuelle Studie, die im " Deutschen Ärzteblatt" veröffentlicht wird, hat nun Vor- und Nachteile bestimmter Operationsverfahren bei gutartigen Knoten untersucht.

Die Chirurgen Nada Rayes, Daniel Seehofer und Peter Neuhaus der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Transplantationschirurgie der Charité in Berlin legten diese Studie vor. Sie fordern, häufiger nur einen Teil der Schilddrüse zu entfernen, da die Patienten so mit weniger Komplikationen rechnen müssten.

Eine vollständige Entnahme des im Lateinischen "Glandula thyreoidea" genannten Organs, die sogenannte totale Thyreoidektomie, sei nur bei einem Verdacht auf bösartige Knoten notwendig. Doch bei der Überprüfung des entfernten Gewebes zeigt sich: Nur bei etwa acht Prozent der Patienten war überhaupt ein Karzinom vorhanden.

Roland Gärtner, ein Spezialist für Schilddrüsen am Zentrum für Endokrine Tumore des Universitätsklinikums München, ist sich sogar sicher, dass in Deutschland ungeachtet der Operationsmethode einfach zu viele invasive Eingriffe vorgenommen werden. Nicht nur die totale OP, sondern auch die teilweise Entnahme des Organs werde zu häufig praktiziert.

Trotz ihrer geringen Größe erfüllt die Schilddrüse wichtige Aufgaben im Körper. Sie produziert Hormone, die Einfluss auf den Stoffwechsel haben und für die reibungslose Funktion des Nervensystems, der Muskulatur und des Herz-Kreislauf-Systems sorgen. Um die Hormone bilden zu können, braucht die Schilddrüse Jod. Das Spurenelement nimmt der Mensch durch die Nahrung auf.

Jodmangel führt zu Knoten

"Ein Erwachsener sollte am Tag rund 200 Mikrogramm Jod zu sich nehmen. Der durchschnittliche Deutsche konsumiert aber nur etwa 120 Mikrogramm täglich", sagt Gärtner. Durch eine dauerhafte Unterversorgung mit Jod wächst die Schilddrüse, und es können Knoten entstehen. Etwa jeder fünfte Deutsche hat diese Knoten in der Drüse am Hals. Die meisten Menschen sind davon aber nicht beeinträchtigt.

Wenn die Knoten - medizinisch "Strumen" genannt - doch Probleme machen, sei eine Operation nicht die einzige Lösung. "Vor der Entscheidung zu einem operativen Eingriff sollte immer die Frage stehen: Wie verbessert die OP die Situation meines Patienten?", sagt Peter Goretzki, der die Chirurgische Klinik I am Lukaskrankenhaus in Neuss leitet.

In jedem Fall muss operiert werden, wenn die Struma bösartig sein kann, hier sind sich die Ärzte einig. Allerdings sollten alle diagnostischen Mittel eingesetzt werden, um die Art des Knotens zu bestimmen. "Dadurch könnte die Zahl der Patienten, die wegen des Verdachts auf ein Malignom operiert werden, bis zu 75 Prozent sinken", sagt Goretzki.

Umfangreiche Diagnostik könnte OP-Zahlen senken

So ließe sich mit einer Ultraschalluntersuchung und einer Feinnadelbiopsie bereits bei der Hälfte der Patienten mit Strumen eine Bösartigkeit der Knoten ausschließen. "Durch eine sogenannte Genexpression kann bei weiteren 25 Prozent der Patienten ein gutartiger Knoten nachgewiesen werden", sagt Goretzki.

Nur das letzte Viertel der Patienten müsse nun mit Verdacht auf bösartige Knoten operiert werden. Bei dem Großteil sei demnach ein Eingriff so lange nicht notwendig, wie die Größe der Strumen das Schlucken oder Atmen nicht beeinträchtigt, sind sich Goretzki und Gärtner einig.

"Trotzdem werden in Deutschland im Jahr etwa 90.000 Operationen an der Schilddrüse durchgeführt. Dabei sind nur 3500 Patienten von einem Karzinom betroffen", sagt Gärtner. Das bedeutet, nicht einmal vier von 100 operierten Patienten haben einen bösartigen Krebsknoten in der Schilddrüse.

Wenn der Patient beispielsweise an einer Überfunktion der Schilddrüse leidet, sollte der Arzt zwischen medikamentöser Behandlung, einer Radiojodtherapie und einer OP abwägen, sagt Goretzki.

Die Chirurgen der Charité unter Leitung von Peter Neuhaus gehen bei der Bestimmung der Knoten genauso vor, wie Goretzki es beschreibt. Wenn aber die Entscheidung zu einer Operation gefallen ist, sollte auch die Operationsmethode bedacht werden.

Das Team um Neuhaus kritisiert, dass die Schilddrüse zu häufig vollständig entfernt werde. Eine totale Thyreoidektomie hätte auf lange Sicht mehr Nachteile für den Patienten als eine nur teilweise entfernte Schilddrüse. Trotzdem wurden 2012 in Deutschland etwa 44.000 Schilddrüsen vollständig entfernt und rund 42.000 Teilresektionen vorgenommen.

Angst vor neuen Knoten

Chirurgen bevorzugten eine totale Thyreoidektomie, weil dadurch ein erneutes Wachsen von Knoten ausgeschlossen ist. Damit könne ein zweiter, komplikationsreicherer Eingriff vermieden werden, schreiben die Mediziner in ihrer Studie. Sie versuchen, die Bedenken behandelnder Ärzte mit Zahlen auszuräumen.

"Auch wenn auf beiden Seiten der Schilddrüse gutartige Knoten vorhanden sind, muss sie nicht vollständig entfernt werden" sagt Neuhaus. Es reiche aus, auf einer Seite den gesamten Flügel herauszunehmen und auf der anderen Seite nur so viel zu entfernen, bis ein knotenfreier Rest der Schilddrüse erhalten bleibt.

Nur etwa einer von 100 Patienten müsse bei ausreichender Einnahme von Jod oder Schilddrüsenhormonen später erneut wegen Knotenbildung unters Messer, schreiben die Forscher.

"Außerdem ist es ein Irrglaube, dass sich aus gutartigen Knoten ein Karzinom entwickelt", sagt Goretzki. "Die Zellen in der Schilddrüse teilen sich nicht so schnell wie beispielsweise die im Dickdarm. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich ein gutartiger Knoten zu einem bösartigen entwickelt."

Die Komplikationen nach einer vollständigen Entnahme der Schilddrüse seien ungleich höher, sagt Neuhaus. Auch Gärtner und Goretzki sind sich einig, dass Chirurgen nicht immer die problematischen Folgen sähen, die sie mit einer Operation produzierten.

Erkrankung nach einer Operation möglich

Nach einer Operation könne es zu zwei verschiedenen Folgeerkrankungen kommen. Die Mediziner betonen, dass vor allem eine Verletzung der Nebenschilddrüsen bei der OP ein Risiko darstellt. Bei bis zu zehn Prozent der Patienten werden sie beim Eingriff verletzt, schreibt das Team um Neuhaus.

Durch eine solche Verletzung sind einige Patienten nicht mehr in der Lage, Kalzium im Blut aufzunehmen und es in den Knochen einzubauen. "Dadurch kommt es zu einem Mangel, der langfristig zu Veränderungen am Auge und im Gehirn und zu Knochenschäden führen kann", sagt Goretzki.

Deshalb versuchen Chirurgen, auch bei einer vollständigen Entfernung der Schilddrüse wenn möglich alle, wenigstens aber eines der vier Nebenschilddrüsenkörperchen zu erhalten. "Das ist bei einer Operation nach Dunhill wahrscheinlicher", sagt Neuhaus. Wenn auf einer Seite ein Teil der Schilddrüse erhalten bliebe, schütze dieser Teil die unter ihm liegenden Nebenschilddrüsen vor Verletzung oder Entfernung.

Die zweite mögliche Folgeerkrankung nach einer Operation ist eine Schädigung des Stimmbandnervs. Betroffene Patienten leiden - vorübergehend, manche auch chronisch - an einer rauen, brüchigen Stimme und bekämen bei jeder Erkältung noch schlechter Luft, sagt Gärtner.

Lebenslang Hormone nehmen

Zudem muss praktisch jeder Patient nach einem Eingriff an der Schilddrüse ein Leben lang das Hormon Thyroxin einnehmen. "Damit kompensieren wir die eingeschränkte oder gar nicht mehr vorhandene Leistung der Schilddrüse", sagt Goretzki. In zwei bis vier Wochen nach der OP sei der Patient normalerweise auf die richtige Menge Hormone eingestellt. Die von der Schilddrüse gesteuerten Abläufe im Körper sollten nicht beeinträchtigt sein, sagt Goretzki.

Einen weiteren Vorteil der sogenannten Dunhill-Operation erkennt Gärtner in diesem Zusammenhang. "Es ist leichter, die Patienten auf die richtige Hormonmenge einzustellen, wenn noch Teile der Schilddrüse vorhanden sind - das ist bei der Dunhill-OP ja der Fall."

Obwohl die Hormoneinstellung in den meisten Fällen relativ problemlos funktioniert, sollte trotzdem nicht unbedacht operiert werden. Das Missverhältnis zwischen Operationen wegen des Verdachts auf ein Karzinom und wirklich gefundenen Karzinomen habe noch einen weiteren Grund, sagt Goretzki. Neben einer nicht immer ausreichenden Diagnostik vor einer Operation und einem manchmal zu geringen Problembewusstsein bei Chirurgen sei das Selbstbewusstsein der Diagnostiker ein Problem.

Ärzte wollten nicht die nach einer umfangreichen Untersuchung minimale Gefahr tragen, dass der Patient doch bösartige Knoten hat. "Dann bin ich doch schuld", ist ein Satz, den Goretzki in diesem Zusammenhang häufig von seinen Kollegen hört.

Mehr Operationen als in vielen anderen Ländern

Roland Gärtner sieht noch eine andere Ursache für die zahlreichen Operationen: "Es wird zu viel operiert. Da geht es nur ums Geld." Zwar ist die Zahl der Operationen in den vergangenen Jahren von 120.000 auf 90.000 gesunken. Trotzdem liege diese Zahl noch vier bis sechs Mal höher als in anderen westlichen Ländern, sagt Gärtner.

"Das Wichtigste, was diese Studie meiner Meinung nach zeigt, ist, dass jeder Patient eine Behandlung erhalten muss, die seiner Situation entspricht", sagt Goretzki. Es müsse nicht immer invasiv eingegriffen werden, und wenn, dann sollte die Operation immer zum Einzelfall passen.

Das Ärzteteam der Charité fordert, bei der Wahl des Operationsverfahrens individuelle Faktoren des Patienten wie Alter, Beruf und Begleiterkrankungen zu berücksichtigen.

Wie notwendig es wohl ist, jeden einzelnen Eingriff an der Schilddrüse zu überdenken, zeigt ein Beispiel von Gärtner. "Letzte Woche war eine 83-jährige Frau bei mir in der Praxis - sie sollte an der Schilddrüse operiert werden. Dabei hatte sie 30 Jahre mit den gutartigen Knoten gelebt", sagt Gärtner. "Da ist doch wirklich keine OP notwendig."

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