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Leila sitzt direkt über dem Türrahmen, Joy gegenüber am Fenster. Äste lehnen an den Wänden und stehen überall im Raum. Dazwischen spannen etwa 40 Seidenspinnen - Leila und Joy sind zwei von ihnen - ihre Netze mit bis zu einem Meter Durchmesser. Im Wartezimmer des früheren Krankenhauses der Uniklinik Hannover hoffen die Goldenen Radnetzspinnen auf Beute.
"Wegen ihrer großen Netze können wir die ausgewachsenen Tiere nicht in Terrarien halten", erklärt Kerstin Reimers-Fadhlaoui. Sie ist Biologin und leitet unter Peter Vogt das Forschungslabor der Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Das große Interesse der Chirurgie an den Goldenen Radnetzspinnen liegt allerdings nicht in den Tieren selbst - sondern an ihren Seidenfäden. Von der kostbaren Seide versprechen sich Wissenschaftler viel, denn sie hat zahlreiche positive Eigenschaften.
So könnte sie als Wundverschluss, Nervenimplantat und Nahtmaterial dienen. Mit Seide beschichtete Silikonimplantate, Katheter und Gefäßprothesen sollen verhindern, dass bei Patienten Narben und Entzündungen entstehen. In die Form von Schrauben gepresst, könnte Seide sogar Metallprodukte zur Knochenheilung ablösen. Einzelne Seidenpartikel sollen Impfstoffe effektiver machen. Noch ist das zwar Zukunftsmusik - bis jetzt konnten die Forscher noch keines ihrer Produkte am Menschen testen -, doch die Grundlagen dafür sind gelegt. Tierversuche zu verschiedenenen Verfahren verliefen bislang vielversprechend.
Spinnenseide wird von Körper toleriert"Spinnenseide hat ganz außergewöhnliche Eigenschaften", sagt Reimers-Fadhlaoui. Sie ist elastisch, reißfest und hat zudem ein Formgedächtnis. Das bedeutet: Sie leiert nicht aus, egal wie oft man an den Fäden zieht. "Das haben wir in zyklischen Belastungstests nachgewiesen", so die Biologin. Zudem könne Seide ohne Probleme sterilisiert werden. Das sei für den medizinischen Einsatz unabdingbar. "Die hervorstechendste Eigenschaft der Spinnenseide ist, dass sie vom Körper toleriert und abgebaut wird. Denn unser Organismus kann die Seidenproteine in Wasser und Eiweiß spalten."
Doch Seide ist nicht gleich Seide. Spinnen stellen sie natürlich her, aber auch die Raupen des Seidenspinners. Zudem arbeiten Forscher zunehmend mit dem künstlichen Nachbau des Materials. "Spinnenseide hat gegenüber Seidenraupenkokons den Vorteil, dass wir keine Klebeproteine entfernen müssen", sagt Reimers-Fadhlaoui. Die Klebeproteine halten den Kokon der Seidenraupe zusammen. Entfernt man sie in der Seide nicht vollständig, könnte das beim Menschen Allergien auslösen. Eine Entfernung sei zudem notwendig um Seidenraupenkokons überhaupt zu Fäden verarbeiten zu können, sagt die Expertin.
Die Seidenfäden der Spinnen hingegen könnten die Forscher in Hannover direkt so verwenden wie sie von den Tieren kommen. Trotzdem sei die Seide der Raupen leichter zu gewinnen, da die Raupenkokons nur eingesammelt werden müssten. Die Seidenspinnen dagegen werden in einem speziellen Verfahren einzeln "gemolken". Dafür fixieren die Wissenschaftler eine Spinne und ziehen vorsichtig mit einer Pinzette den Seidenfaden aus einer Drüse am Hinterleib. Eine Maschine wickelt den Faden dann auf. Trotz der Vorteile der Spinnenseide ist dies eine komplizierte Angelegenheit.
Raupenseide und künstliche Seide auf dem VormarschForscher um Gabriel Perrone von der US-amerikanischen Tufts Universität in Medford im Bundesstaat Massachusetts setzen daher eher auf die Raupenseide. Für Patienten mit komplizierten Knochenbrüchen könnten Schrauben aus Seide eine Alternative zu vergleichbaren Produkten aus Metall oder resorbierbaren Polymeren sein, schreiben sie in einer kürzlich im Journal "Nature Communications" veröffentlichten Studie.
Die Wissenschaftler haben Schrauben aus Seide im Labor selbst hergestellt und diese dann in Oberschenkelknochen von Mäusen implantiert. Sofort, nachdem die Nager aus der Narkose aufgewacht waren, seien sie wieder umhergelaufen. Sie schonten ihre Beine nicht und schienen auch keine Schmerzen zu empfinden, schreiben die Forscher. Gewebeanalysen zeigten, dass die Mäuse bereits nach vier bis acht Wochen damit begonnen hatten die Seidenschrauben abzubauen. Dabei seien keine Entzündungen aufgetreten und die Knochen fast verheilt.
Auch Philip Zeplin von der Abteilung für Plastische, Ästhetische und spezielle Handchirurgie der Universitätsmedizin Leipzig setzt auf die feinen Fäden. Er lässt allerdings keine Spinnen für sich arbeiten, sondern benutzt ein biotechnologisch hergestelltes Zwillingsprodukt - sozusagen Spinnenseide aus dem Reagenzglas. Damit will er vor allem Entzündungen vermeiden.
Bakterien können Proteine der Spinnenseide produzierenKürzlich veröffentlichte sein Team eine Studie im Journal "Advanced Functional Materials" über den Einsatz von biotechnologisch hergestellter Seide als Beschichtungsmaterial. Sie setzten Ratten Silikonimplantate mit Seidenumhüllung ein und beobachteten sie über ein Jahr. "Es kam weder zu Problemen bei der Wundheilung noch zu Entzündungen. Auch eine bei Silikonimplantaten typische Komplikation, die Kapselfibrose, wurde nicht beobachtet", so Zeplin.
Die biotechnologische Seide baut sich wie die natürliche Seide aus dem US-Labor im Laufe der Zeit im Körper einfach ab. "Nach einem Jahr waren noch Teile der Beschichtung nachweisbar", sagt Zeplin. Er will den Seidenmantel auch bei Gefäßprothesen und Kathetern einsetzen. So ließe sich eine Abstoßreaktion des Körpers, ein Funktionsverlust oder schmerzhaftes Einwachsen verhindern.
Solche seidenbeschichteten Implantate wurden von Thomas Scheibel entwickelt. Vor etwa zehn Jahren gelang es seiner Arbeitsgruppe an der TU München, E. coli Bakterien genetisch so umzubauen, dass sie die Proteine der Spinnenseide produzieren. Heute besetzt Scheibel den Lehrstuhl für Biomaterialien der Universität Bayreuth. 2008 gründete er das Biotechnologieunternehmen AMsilk, das die Seidenproteine heute in größeren Mengen herstellt. Dort konnten auch die Implantate mit dem Mantel aus Spinnenseide beschichtet werden.
Seidenpartikel als WirkstofftransporterNachdem die Bakterien Seidenproteine hergestellt haben, trennen die Forscher Bakterien und Proteine in einem speziellen Verfahren voneinander. "Die Seidenproteine flocken nicht aus, sondern bleiben in der Lösung. Das funktioniert wie beim Eierkochen - die bakteriellen Moleküle werden fest und können abgetrennt werden", sagt Scheibel. Ein einzelnes Seidenprotein könne man sich wie eine Spaghetti vorstellen - sehr lang und sehr dünn. "Für die Faserherstellung werden viele "Spaghetti" so dicht wie möglich aneinander gelagert", sagt Scheibel.
Auch in der Natur funktioniert das so: Die Seidenspinne formt erst im Fadenkanal eine dichte Struktur - den Faden - aus den Proteinen. Für die Beschichtung eines ganzen Implantats braucht man vergleichsweise viel Seide. Anders ist das bei Gerhard Winter. Er hat den Lehrstuhl für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne.
Mit seinem Team forscht er daran, winzige Seidenpartikel als Wirkstofftransporter einzusetzen. "Moderne Impfstoffe sind besonders effektiv, wenn sie den Wirkstoff - das Antigen - auf kleinen Partikeln tragen", erklärt Winter. Dadurch, dass die Partikel die Größe des Erregers annehmen könnten, sei der Wirkstoff den richtigen Viren und Bakterien ähnlich. Der Körper könne so passgenaue Antikörper bilden.
Dringt ein entsprechender Erreger dann in den Körper ein, ist das Immunsystem bereits geschult - und kann ihn leichter bekämpfen. "Die Partikel der Spinnenseide sind als Wirkstofftransporter deshalb so gut geeignet, weil wir sie formen können ohne organische Lösungsmittel einzusetzen", sagt Winter. Denn organische Lösungsmittel würden Eiweiß wie den Impfwirkstoff ausflocken lassen. "Außerdem sind die Partikel der Spinnenseide für den Körper besonders verträglich", führt Winter an.
Seidenfaden für Mikrochirurgie interessantDie Verträglichkeit ist es wohl vor allem, die Seide für viele Mediziner so interessant macht. "Spinnenseide ruft keine schädliche Immunreaktion im Körper hervor", sagt Reimers-Fadhlaoui. "Hautzellen siedeln sich gerne auf ihr an, aber Bakterien mögen die Oberfläche nicht." Man könne auf der Seide sogar Hautzellen wachsen lassen. Dafür spannt man ein Gewebe aus Spinnenseide auf einen Rahmen und besiedelt es mit Hautzellen. Innerhalb von etwa drei Wochen bilden sich hautähnliche Strukturen auf der Seide, wenn sie mit Nährlösung gepflegt und mit ausreichend Luft versorgt wird.
"Im Moment ist dieses Verfahren noch nicht für den klinischen Einsatz ausgereift. Aber wir sind froh, bewiesen zu haben, dass sich Hautzellen auf Seide kultivieren lassen", sagt Reimers-Fadhlaoui. Aber auch der klassische Seidenfaden soll seinen Weg in die Medizin finden. "Mit einer Reepschlägerei in Miniatur haben wir 30 einzelne sehr dünne Seidenfäden miteinander verdrillt und Nahtmaterial hergestellt", sagt Reimers-Fadhlaoui.
Der erzeugte Faden könnte beispielsweise bei mikrochirurgischen Eingriffen verwendet werden, so die Idee. Die Wissenschaftler testeten den präparierten Seidenfaden anschließend im Reagenzglas - und er löste sich wie erwartet auf. Zudem sei der Faden ausgesprochen belastbar und formstabil geblieben. Aus 306 einzelnen Seidenfäden fertigten die Forscher danach noch eine weitere Stärke an. Dieser dickere Faden könnte etwa für eine Sehnennaht verwendet werden.
Bereits im Jahr 2012 gelang es Kerstin Reimers-Fadhlaoui, zusammen mit ihrem Kollegen Peter Vogt, mithilfe von Spinnenseide durchtrennte Nervenbahnen bei Schafen wieder zu verbinden. Dabei dienten Tausende von Spinnenseidenfäden in einer Vene gebündelt als Wegweiser für die wachsenden Nervenfasern. Über eine Distanz von sechs Zentimetern wuchs der Nerv dann schließlich erfolgreich an der Seide entlang zusammen.