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Als Jane Goodall 1960 nach Tansania ging, wollte sie nichts weiter als Schimpansen beobachten. Doch das machte die damals 26-jährige Britin auf eine bis dahin unbekannte Art. Goodall versteckte sich nicht vor den Menschenaffen, wie andere Forscher es taten. Sie lebte mit den Schimpansen zusammen und war nach einigen Jahren selbst Teil der Gruppe. So bekam sie völlig neue Einblicke. Heute ist diese Form als "teilnehmende Beobachtung" bekannt.
"Sie hat die Tür für Kulturforschung bei Schimpansen aufgestoßen", sagt die Biologin Lydia Luncz vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Sie untersucht ebenfalls das Verhalten von Schimpansen, lebt aber nicht wie Goodall mit den Affen im Wald zusammen. Wenn sie für ihre Forschungsarbeit in den Taï Nationalpark in der Elfenbeinküste fährt, dann folgt sie den Schimpansen vom Aufstehen bis zum Zubettgehen.
Allerdings versteckt sie sich vor ihnen - denn die Affen sollen die Forscherin und ihre Kollegen so wenig wie möglich zu Gesicht bekommen. "Wir interagieren gar nicht mit den Schimpansen, wir fassen sie auch nicht an," sagt Luncz. Am Abend, wenn die Menschenaffen in ihren Baumnestern schlafen, geht Luncz zurück in ihr Camp und wertet Daten aus. Trotz methodischer Unterschiede weiß die Leipziger Forscherin aber um die wissenschaftliche Leistung Jane Goodalls: "Sie schrieb als Erste, dass Schimpansen mit Stöcken nach Termiten angeln, also Werkzeug benutzen, und gemeinsam jagen."
Grundstein für Kulturforschung an PrimatenJane Goodall wird am Donnerstag 80 Jahre alt. Ihre Erkenntnisse haben den Grundstein für die Kulturforschung an Primaten in der westlichen Wissenschaft gelegt. Bereits in den 1950er-Jahren beschäftigte sich der japanische Evolutionsbiologe Kinji Imanishi mit Affen und ihrer Kultur. Er beobachte, dass Makaken Kartoffeln im Wasser waschen und diese Technik vererben - also durch Lernen an Artgenossen weitergeben.
Wie aber diese Entdeckungen zu deuten sind, darüber sind sich Forscher heute auch noch nicht einig. Kann die Tatsache, dass Schimpansen sozial voneinander lernen, Werkzeuge benutzen oder sich mit bestimmten Lauten verständigen als eine Form von Kultur gewertet werden?
Forscher wie Claudio Tennie sind davon überzeugt, dass Kultur nicht den entscheidenden Einfluss auf das Verhalten der Schimpansen hat. Sie sehen in der Umwelt und den Genen wichtige Faktoren.
In den Augen anderer Forscher sind die Beweise für eine Schimpansenkultur längst erbracht. Zu ihnen zählt nicht nur Lydia Luncz sondern auch Klaus Zuberbühler. Er möchte die gängige Kulturdefinition noch um einen Faktor erweitern. Dadurch verspricht er sich die Fähigkeiten von Schimpansen besser mit denen von Menschen abgleichen zu können.
"Die klassische Definition für Kultur bei Tieren setzt drei Faktoren voraus, die nicht nur bei Schimpansen, sondern auch bei anderen Lebewesen wie Fischen oder Vögeln nachgewiesen wurden," sagt Klaus Zuberbühler. Er ist Verhaltensbiologe und Lehrstuhlinhaber für Komparative Kognition an der Universität Neuchâtel in der Schweiz. Für diesen Kulturbeweis müssten unterschiedliche Verhaltensweisen bei verschiedenen Schimpansengruppen gefunden werden. Diese müssten sozial erlernt sein und über Generationen weitergegeben werden.
Eigene Verhaltensweisen"In der Praxis bedeutet das, dass wir nach Verhaltensformen suchen, die nicht in jeder Gruppe auftreten", sagt Zuberbühler. Das spezifische Gruppenverhalten, beispielsweise das Aufnehmen von Wasser mit Hilfe eines Schwamms aus zerkauten Blättern, sei deshalb sozial erlernt. Es liege den Affen demnach nicht im Blut das Wasser auf diese bestimmte Weise aufzunehmen. Jede Gruppe hat eine andere Technik. "Wenn nun mehrere gruppenspezifische Verhaltensweisen gefunden werden und die Clanmitglieder sie von Generation zu Generation weitergeben- also eine Tradition bilden- spricht man von Kultur im Tierreich", sagt Zuberbühler.
In einer bereits 1999 im Journal "Nature" veröffentlichten Studie fassten Verhaltensforscher, unter ihnen auch Jane Goodall, ihre Beobachtungen von unterschiedlichen Affengruppen in ganz Afrika zusammen. Sie listeten 39 verschiedene Verhaltensweisen bei der Fellpflege, der Partnerwerbung und beim Benutzen von Werkzeug auf, die auch von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Spätestens das ist für Klaus Zuberbühler der Kulturbeweis nach der klassischen Definition.
"Goodall und Kollegen haben auf diese Weise schon vor mindestens 15 Jahren Kultur bei den Schimpansen nachgewiesen. Was wir doch schlussendlich wollen, ist durch die Kulturforschung bei Primaten mehr über uns selbst zu erfahren", sagt Zuberbühler. Deshalb möchte er einen kognitiven Aspekt in die Definition aufnehmen. "Solange wir nicht nachgewiesen haben, dass Schimpansen ein Bild von sich selbst und ihrer Situation im Kopf haben - sozusagen ein Bewusstsein - können wir auch nicht sicher sagen, ob die Affen nicht einfach sozusagen blind durch den Wald laufen und das machen, was alle anderen machen."
Wieso bauen Schimpansen keine Flugzeuge?Claudio Tennie will mit seiner Forschung auch mehr über den Ursprung des Menschen und seiner Kultur erfahren. Der Verhaltensforscher arbeitet am Institut für Psychologie der Universität Birmingham in Großbritannien und versucht herauszufinden, weshalb sich Schimpansen und Menschen unterscheiden. "Wieso bauen wir Hochhäuser und Flugzeuge - die Schimpansen, deren DNA zu etwa 98 Prozent mit unserer identisch ist, aber nicht?", fragt Tennie.
Es könnte an ihrer beschränkten Fähigkeit zur Imitation liegen. Schimpansen seien nur in der Lage Verhaltensformen nachzuahmen, die bereits latent in ihnen angelegt sind. Deshalb könnte beispielsweise das Verhalten Nüsse mit Werkzeug zu knacken in ihnen geweckt werden. Dagegen seien Schimpansen aber nicht in der Lage eine unbekannte Verhaltensweise nachzuahmen. Denn die Affen müssten diese vollständig neu durch Imitation erzeugen.
Das bedeutet im Umkehrschluss ein Schimpanse, der ohne Artgenossen zum Beispiel im Zoo aufwächst, könnte anfangen Nüsse mit Werkzeug zu knacken. Er müsste das Verhalten nicht bei anderen Schimpansen beobachten, da es in ihm angelegt sei.
Fehlende Vorstellungskraft"Deshalb brauchen Menschenaffen auch keine ausgeprägte Fähigkeit zur Imitation", sagt Tennie. "Bei uns Menschen ist das anders. Wenn bei uns ein Kind isoliert aufwachsen würde, käme es nicht auf die Idee beispielsweise ein Fahrrad zu bauen", sagt der Verhaltensforscher. Wir Menschen seien aber im Gegensatz zu den Schimpansen in der Lage Verhalten zu kopieren, Ideen weiterzugeben und diese auch zu verfeinern. Nur deshalb könnten wir zum Beispiel Raketen bauen und am Herzen operieren.
Um seine These zu prüfen, machte Tennie einen Versuch mit Schimpansen im Zoo. Er stellte ein Schiffchen mit Früchten vor den Käfig eines Primaten und gab ihm eine Faser aus Holzwolle. Um das Schiffchen zu sich heranzuziehen, hätte der Affe eine Schlaufe aus der Faser formen müssen. Jeder Schimpanse im Test versuchte irgendwie an die Früchte zu kommen, aber keiner hatte die Idee eine Schlinge zu formen. "Eine Schlaufe zu formen und zu benutzten ist bei Schimpansen nicht latent angelegt. Deutlicher: Der Ideenreichtum der Affen wird durch ihre Natur beschränkt", sagt Tennie.
In einem zweiten Versuch überprüfte Tennie, ob und in wie weit Schimpansen Handgriffe anderer imitieren können. Er zeigte den Primaten wie man eine Schlaufe formt und gab ihnen damit die Lösung des Fruchtschiffchen-Problems vor. Dennoch sei kein Schimpanse in der Lage gewesen die Schlinge zu bilden, um sich die leckeren Früchte zu sichern.
Grenzen der Anpassung"Damit ist ein Beweis für die eingeschränkte Imitationsfähigkeit der Schimpansen geliefert", sagt Tennie. Trotzdem könnten sich Schimpansen flexibel an ihre Umwelt anpassen. Deshalb hätten Forscher bei den Primaten beispielsweise geringfügig unterschiedliche Arten Nüsse zu knacken entdeckt. "Den Menschenaffen sind eben Grenzen der Anpassung in die Wiege gelegt worden", sagt Tennie.
So sicher sich Tennie ist, dass für die Verhaltensweisen der Schimpansen keine Kultur notwendig ist - so überzeugt ist Lydia Luncz vom Gegenteil. "In meinen Augen haben wir einen ausreichenden Kulturbeweis erbracht", sagt sie. Zusammen mit dem Verhaltensforscher Christiophe Boesch beobachtete sie drei Schimpansengruppen im Taï Nationalpark in der Elfenbeinküste.
Dabei stellten sie fest, dass die verschiedenen Clans auf drei verschiedene Arten Coulanüsse knackten. "Von November bis Ende März verbringen die Schimpansen mehrere Stunden am Tag damit die walnussähnlichen Früchte zu öffnen", sagt Luncz. Es zeigte sich, dass eine Gruppe während der ganzen Nuss-Saison Hämmer aus Stein benutzt. Eine andere greift nur am Anfang auf Steine zum Knacken zurück und wechselt dann zu Holzhämmern - denn die Nüsse werden im Laufe der Zeit trockener und dadurch leichter zu knacken. Der dritte Clan tauscht im Verlauf der Saison auch Stein gegen Holz, verwendet aber wesentlich größere Werkzeuge. Diese Unterschiede konnten die Forscher beobachten, obwohl die Schimpansen in sehr ähnlicher Umgebung leben und genetisch nahe verwandt sind.
Eng verwandte Gruppen"Schimpansinnen sind für die enge Verwandtschaft der Gruppen verantwortlich," sagt Luncz. Weibchen verlassen nach der Geschlechtsreife ihren Clan und schließen sich einer anderen Sippe an, um Inzucht zu vermeiden. "Gene und Umwelt sind also fast identisch, trotzdem gehen die Schimpansen beim Nüsseknacken unterschiedlich vor," sagt Luncz.
Dabei sei auch interessant, dass die eingewanderten Weibchen ihre Art Nüsse zu knacken ablegen und die Methode der neuen Gruppe übernehmen. Schimpansen seien also auch im Erwachsenenalter noch in der Lage zu lernen. "Das ist ein weiterer Beweis für Kultur bei Schimpansen, da die Affen sozial voneinander lernen müssen, um ihr Vorgehen zu ändern," sagt Luncz.
"Das soziale Lernen spielt demnach nicht nur bei Jungtieren eine Rolle", sagt die Verhaltensforscherin. Immer wieder geben Schimpansen bewusst oder unbewusst Wissen an andere Primaten weiter. Wir Menschen haben die Praxis der bewussten Weitergabe von Wissen durch Schulen und Universitäten sogar institutionalisiert. "Schimpansen geben ihr Wissen nicht bewusst weiter - betreiben also nicht das sogenannte Teaching wie wir Menschen das bei unserem Nachwuchs machen", sagt Zuberbühler.
Es gebe aber Formen von Imitation und Emulation, dem bewussten Hinführen zu einem Verhalten, ist sich Luncz sicher. Wenn eine Schimpansenmutter Nüsse für ihren Nachwuchs nicht vollständig knackt und das Jungtier die Nuss selbst aus der Schale befreien muss, sei das ein typischer Fall von Emulation.
Falsche ZuschreibungenBesonders bei der Emulation müssen die Forscher aber aufpassen, nicht zu viel in das Verhalten einzelner Schimpansen hineinzudeuten. Denn aus welchem Grund eine Schimpansenmutter beispielsweise einen Hammer liegen lässt, ist nicht nachzuweisen. Will sie ihren Nachwuchs zum Nüsse knacken animieren - oder legt sie das Werkzeug einfach ab, da sie es nicht mehr braucht? Allzu leicht mag man den Schimpansen Verhaltensweisen, Eigenschaften oder gar Gefühle zuschreiben, die wir bei uns Menschen finden. "Denn dadurch dass Schimpansen uns so ähnlich sind, wollen wir ihnen nicht so leicht Fähigkeiten absprechen, die für uns selbstverständlich sind", sagt Claudio Tennie.
Egal wie einzelne Primatologen ihre Verhaltensbeobachtungen deuten, eines wissen sie sicher: die Studien an Schimpansen müssen weitergehen. So ist Klaus Zuberbühler der Meinung, dass Kulturforschung mehr an Affen in ihrem natürlichen Lebensraum vorgenommen werden müsste. "Letztendlich geschieht Evolution in der freien Wildbahn und nicht im Zoo", sagt der Verhaltensforscher.
Allerdings sollten die Freilandforscher ihren Ansatz weiterentwickeln, sagt Zuberbühler. Denn mit Beobachtungen allein könnten sie nie mit Sicherheit sagen, warum sie eine Veränderung im Verhalten der Schimpansen beobachten - die Kausalität ist nicht sicher nachzuweisen. Zu viele Umweltfaktoren könnten das Verhalten der Schimpansen beeinflussen. Deshalb greift Zuberbühler zusammen mit Thibaud Gruber auch wieder etwas stärker in das Leben der Affen ein. Die Forscher übertragen Versuche, wie sie bereits seit Jahren mit Primaten in Zoos gemacht werden, auf frei lebende Schimpansen.
Auf diesem neuen Forschungsweg könnten die beiden sich auch Jane Goodall zum Vorbild nehmen. "Denn sie war die erste, die überhaupt Daten aus dem Wald gezogen hat", sagt Lydia Luncz. Sie sah Schimpansen als Individuen und gab ihnen Namen statt Nummern. Ein Perspektivwechsel mit großem Erkenntnisgewinn.