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Wann das Gefühl für soziale Gerechtigkeit entsteht

Foto: picture alliance / dpa

Mit zwei Teddybären, einigen Aufklebern und 68 Kleinkindern die Wurzeln von Mitmenschlichkeit aufdecken - klingt komisch, hat aber funktioniert. Dafür wurde in einem Experiment ein Teddy reich mit Stickern ausgestattet - er hatte 100 davon in einem Album. Dem anderen Bären wurden dagegen nur zwei kleine Aufkleber, ganz links oben in einer Ecke seines Heftchens geklebt.

Auch die Kinder bekamen Sticker und mussten entscheiden welchem Bären sie Aufkleber abgeben wollen. Das Überraschende: Fünfjährige verteilen ihre Klebebildchen in der Regel nicht gleichmäßig an Arm und Reich, sondern schenken dem fast stickerlosen Teddy mehr von ihren Aufklebern.

Das Teddy-Experiment hat Markus Paulus, Professor für Entwicklungspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München vorgenommen und die Ergebnisse im Journal "Frontiers of Psychology" veröffentlicht.

Für die Studie teilte der Psychologe Kinder in zwei Altersgruppen ein - Dreijährige und Fünfjährige. Er stellte den Kindern die gleiche Aufgabe. Sie bekamen zwei Sticker mit dem Hinweis in die Hand: "Du kannst beide behalten oder nur einen für dich nehmen und den anderen abgeben." Einmal saß ihnen dabei der "reiche" Bär mit vielen Stickern gegenüber, das andere Mal der "arme" Teddy, der nur wenige Klebebilder hatte. Längst nicht alle Kinder gaben durchgängig einen Sticker ab.

"Grundsätzlich ist es ja so, dass Kinder erst einmal viel für sich haben wollen," sagt Paulus. Die erste Hürde für die Kleinkinder auf dem Weg, Mitmenschlichkeit zu zeigen, war also überhaupt, einen Aufkleber abzugeben. Dabei schnitten die Fünfjährigen besser ab. Sie wählten häufiger die Option, einen Sticker zu behalten und ein Klebebildchen abzugeben als die Dreijährigen. Und zwar vor allem dann, wenn ihnen der arme Bär gegenübersaß. Ein Drittel der Dreijährigen gab auch einen der Aufkleber ab, achtete dabei aber nicht auf den Sticker-Wohlstand des Bären. Paulus konnte sogar eine Tendenz bei den dreijährigen Kindern feststellen, eher dem reichen Teddy ein Bildchen abzugeben.

Zwei zu zwei oder drei zu eins?

In einem zweiten Experiment stellte Markus Paulus den Kindern eine Aufgabe, bei der sie keinen Aufkleber für sich selbst behalten konnten. Damit mussten sich die Kinder nicht entscheiden, ob sie überhaupt etwas abgeben wollen. Allerdings saßen dieses Mal beide Teddys - arm und reich an Stickern - vor ihnen. Die Kinder bekamen vier Klebebildchen und konnten wählen, ob sie jedem Teddy zwei Bildchen schenken oder einem Bären drei und dem anderen nur eines.

"Besonders bei den Fünfjährigen haben wir eine ganz spannende Entdeckung gemacht", sagt Paulus. Sie haben meistens die Verteilung drei zu eins gewählt und dem armen Bären mehr Aufkleber gegeben als dem reichen. Die Fünfjährigen handeln nicht nach dem Prinzip jeder bekommt gleich viel - obwohl andere Studien gezeigt haben, dass ihnen das sehr wichtig ist - sondern verteilen mit dem Vorsatz ausgleichender Gerechtigkeit.

Die Kinder erkennen demnach, dass ein Teddy sehr wenig und der andere sehr viel hat. Mit ihrer Entscheidung, die Sticker ungleich zu verteilen, unterstützen sie den armen Bären mehr. Die Fähigkeit, je nach Bedürftigkeit des Einzelnen aufzuteilen, entwickelt sich demnach im Alter zwischen drei und fünf Jahren - also sehr früh. "Das könnte einer der Grundlagen für Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft sein," sagt Paulus.

Nicht klären konnte Markus Paulus allerdings, welchen Einfluss beispielsweise Erziehungsstil oder sozialer Hintergrund auf die Entscheidung der Kinder hat. Zudem bleibt unklar, ob das Teilverhalten der Fünfjährigen sozial erlernt ist oder auf eine Weise schon in ihnen angelegt ist. "Das sind alles interessante Fragen, die wir uns stellen und in zukünftigen Studien klären wollen", sagt Paulus.

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