Christina Schott

Southeast Asia Correspondent: Research, Report, Analysis, Berlin

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Art 6/2022 – Wer den Gudskul-Komplex im Süden Jakartas betritt, muss am Coffeeshop von Mas Ube vorbei. Aus dem knallig bemalten Container duftet es nach frisch gemahlenem Kaffee, nach Zimt und karamelisiertem Palmzucker. Die moderne Barista-Ausstattung steht im krassen Gegensatz zu den scheinbar aus Sperrmüll zusammengewürfelten Sitzmöbeln. An diesem Nachmittag steht gleich daneben ein dreirädriger Karren, wie er in Indonesien sonst von mobilen Stra.enküchen benutzt wird – nur dass dieser hier statt mit Kochstelle mit einem kompletten Soundsystem ausgerüstet ist. Ein DJ dudelt Hits aus den achtziger und neunziger Jahren. Die lässig gekleideten Kaffeetrinker um ihn herum wippen gut gelaunt mit.

Dahinter haben rund 15 Händler unter den Vordächern und in den Gängen des industriell anmutenden Gebäudes ihre Stände aufgebaut. Passend zur Musik bieten sie Secondhandklamotten, Magazine, Kassetten und Sammlerstücke aus den Achtzigern an. Junge Künstler und hippe Designer verkaufen selbst gestaltete Shirts, Taschen und Mode-Accessoires. Lokale Indie-Labels präsentieren ihre Musik und dazugehörige Merchandise-Waren. Dazwischen brutzeln einige Frauen aus der Nachbarschaft Frühlingsrollen, gebratene Nudeln und Bananen in Teighülle. Aus dem oberen Stockwerk tönt experimentelle Musik: Hier präsentiert Choreograf und Tänzer Siko Setyanto gerade vor zwei Dutzend Zuschauern das Ergebnis seiner Kollaboration mit fünf Tänzern.

Es ist das letzte Wochenende vor Weihnachten 2021, mitten in der Regenzeit. Mit dem »Holy Market« findet zum ersten Mal seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie wieder eine größere Präsenzveranstaltung im »Öko system für kollektive Studien und bildende Künste« statt – so der vollständige Name der Gudskul. Drei Künstlerkollektive haben die Bildungs- und Förderinitiative 2018 gemeinsam gegründet: die Grafikdesigner von Grafis Huru Hara, die Fine-Arts-Gruppe Serrum sowie das interdisziplinäre Künstlerkollektiv ruangrupa, das vor drei Jahren zur künstlerischen Leitung der Documenta in Kassel ernannt wurde. Das Grundstück an einer Durchgangsstraße südlich des Ragunan-Zoos haben die Künstler mithilfe einer finanziellen Förderung der Ford Foundation erworben. Die Büros befinden sich bis heute in übereinander gestapelten Schiffscontainern, die über wackelige Wendeltreppen und Geländer miteinander verbunden sind, einige verschwinden mittlerweile hinter Holzverkleidung oder rankenden Pflanzen.

Das zweistöckige Hauptgebäude mit Veranstaltungssaal, Galerie, Bibliothek und Radiostudio war bis kurz vor der Pandemie noch eine Baustelle. Alle Räume können auch von Außenstehenden gemietet werden. »Wir haben die Gudskul gegründet, damit wir uns wieder besser auf unsere künstlerische Arbeit konzentrieren können«, erklärt ruangrupa-Mitglied Reza Afisina, der sich in Jakarta als Performancekünstler einen Namen gemacht hat. »Den geschäftlichen Teil haben wir in die Gudskul ausgelagert, wo wir unsere gemeinsamen Ressourcen bündeln Unterhalt zu finanzieren, unser Netzwerk auszubauen und zugleich noch andere Künstler zu fördern.«

Zu den Zielen der Bildungsplattform gehört, einer interessierten Öffentlichkeit die Werte von Kulturarbeit näherzubringen. »Wenn wir glauben, dass sich Kunst und Künstler nicht mehr weiter nur mit sich selbst beschäftigen können, dann ist die kollektive oder kollaborative Arbeit eine Möglichkeit, um gesellschaftliche Haltung zu beweisen, sei es auf theoretischer oder praktischer Ebene«, heißt es im Statement zur Gründung der Gudskul. Die gemeinschaftlichen Werte, die in diesem kollektiven Prozess von Bedeutung sind – etwa Transparenz, Genügsamkeit und Nachhaltigkeit –, hat ruangrupa in das lumbung-Konzept für die kommende Documenta einfließen lassen. Das Bild der traditionellen indonesischen Reisscheune (lumbung) dient dabei als Symbol für einen gemeinsam genutzten Ressourcenfundus, der kreative Ideen, Wissen und Finanzen der beteiligten Künstler vereint. »Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass wir eine von uns mitgegründete Organisation auf die Documenta einladen«, sagt Afisina, der 2020 nach Kassel gezogen ist, um die documenta fifteen vorzubereiten. »Aber es ging uns darum, an einem konkreten Beispiel zu demonstrieren, was wir mit lumbung-Praxis meinen: angefangen bei der gemeinschaftlichen Organisation von Events, über den ökonomischen Kreislauf eines kollektiven Topfs, der umverteilt wird, bis hin zur gemeinsamen Evaluation.«

Der Holy Market könnte so ein Beispiel sein: Das ruangrupa-Team in Kassel plant neben vielen anderen Events in Kassel ein ähnliches Format für die documenta fifteen. In Jakarta findet der Kunst- und Secondhandbasar mit integrierten Performances und Workshops seit 2009 statt – immer zum Zuckerfest am Ende des Ramadans und vor Weihnachten. Als sich ruangrupa zwischenzeitlich in ein 3000 Quadratmeter großes Lagerhaus im Zentrum Jakartas eingemietet hatte, wuchs der Markt unter dem Namen »Tumpah Ruah« auf Hunderte Stände an – und bekam fast ikonische Bedeutung. »Freunde haben mir von diesen Events vorgeschwärmt«, erzählt die 24-jährige Maura Rumanty, die zum ersten Mal den Holy Market besucht. In ihrem Kulturmanagement-Studium sei es durchaus Thema, dass ruangrupa und die Gudskul an der Documenta beteiligt sind. »Ich finde es interessant, wie sich junge Künstler hier selbst vermarkten können. Besonders gut gefällt mir, dass der Basar für jedermann offen ist und eine sehr ungezwungene Atmosphäre herrscht – ganz anders als bei einem gesponserten Galerie-Event.«

Um das künstlerische Verständnis von ruangrupa und anderer indonesischer Kollektive zu verstehen, ist ein Blick zurück bis in die niederländische Kolonialzeit nötig. Damals durften einheimische Künstler weder an Kunstakademien studieren noch in Galerien ausstellen. Also schufen sie sich Räume, in denen sie gemeinsam lernen und ihre Werke präsentieren konnten. Schon in den dreißiger Jahren bildete sich die legendäre Künstlergruppe Persagi, die sich an der sozialen Realität der Bevölkerung orientierte und somit von der kitschigen »Mooi-Indië«-Landschaftsmalerei der Kolonialherren distanzierte.

Nach der Unabhängigkeit Indonesiens entstand die Kulturbewegung Lekra, die den linkspolitischen Zielen der mitregierenden Kommunisten nahestand. Als 1965 das Militärregime General Suhartos an die Macht kam und Hunderttausende Kommunisten umbringen ließ, wurde Lekra zerschlagen. Danach war es kaum mehr möglich, unabhängig von staatlicher Überwachung im Kollektiv zu arbeiten. Zudem wurde jegliche Kunst mit sozialpolitischem Kontext unterdrückt: Kunst hatte rein ästhetisch zu sein. Nur wenige wagten dagegen aufzubegehren, etwa die Neue Kunstbewegung (Gerakan Seni Rupa Baru).

Erst nach dem Sturz Suhartos 1998 bildeten sich wieder neue Gruppen außerhalb der staatlichen Kunstschulen. Neben der Protesthaltung gegen das alte Regime war das vor allem ein Versuch, eine unabhängige kulturelle Infrastruktur aufzubauen, die es bis dato nicht gab. Treibender Motor für eine kulturelle Underground-Bewegung mit sozialpolitischen Inhalten in der Kunst war in dieser Zeit das Künstlerkollektiv Taring Padi aus Yogyakarta, das ebenfalls auf der documenta fifteen ausstellen wird. Die damalige Studentengruppe verstand sich als Sprachrohr für jene Teile der Bevölkerung, die sich selbst kein Gehör verschaffen konnten, und machte mit spektakulären Posteraktionen und Performances auf Missstände aufmerksam.

ruangrupa-Mitgründer Ade Darmawan studierte damals in der zentraljavanischen Kunstmetropole und brachte die neuen Ideen zurück in seine Heimatstadt Jakarta. Allerdings mussten er und seine Mitstreiter ihre Ziele an die schwierigeren ökonomischen und räumlichen Bedingungen in der Hauptstadt anpassen: weniger Ideologie, mehr Pragmatismus. So bot ruangrupa anfangs vor allem eine nicht kommerzielle Plattform für junge Künstler, die woanders keinen Raum für ihre Experimente fand. Ähnlich der illegalen Clubs im Berlin der Wendezeit fanden improvisierte Konzerte und Ausstellungen in abgewrackten Hinterhofstudios statt, die in der urbanen Kunstszene nach und nach Kultcharakter bekamen.

Durch geschicktes Networking erhielten die Trendsetter von ruangrupa bald internationale Aufmerksamkeit – und Förderung von ausländischen Kulturinstituten. Doch ein Problem blieb bestehen: die fehlende lokale Infrastruktur. »Wie soll man langfristig kreativ arbeiten, wenn der Raum dafür fehlt? Nach jedem Projekt muss man sich erneut fragen, wie es weitergeht«, sagt ruang rupa-Direktor Ade Darmawan. »Also haben wir solange gekämpft, bis wir Gelder für den Aufbau der Gudskul bekommen haben, die nicht projektgebunden waren. Das war der Umkehrpunkt. Und die Basis für unseren ersten interlokalen lumbung mit anderen Kollektiven.«

Diese Erfahrung fließt nun in das kuratorische Konzept der documenta fifteen ein. Alle Teilnehmer der Schau – ob Einzelkünstler oder Kollektive – arbeiten in kleineren Gruppen zusammen, den sogenannten mini-majelis. Dort besprechen sie ihre Pläne, tauschen Ideen aus, planen gemeinsame Veranstaltungen. Jeder Gruppe steht ein Geldtopf zur Verfügung, über dessen Verwendung die Mitglieder gemeinsam entscheiden. »Das war vor allem anfangs nicht ganz einfach, da die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind«, berichtet Setu Legi vom Kollektiv Taring Padi. »Die Künstler in Uganda brauchen Internet-Zugang, der Kollege in Holland dagegen personelle Unterstützung bei seinem Programm. Aber inzwischen profitieren alle voneinander, und wir planen sogar schon Kollaborationen nach der Documenta.«

Viele der anfänglichen Pläne für die documenta fifteen hat die Pandemie zusätzlich erschwert: Geplante Treffen in Kassel mussten abgesagt, Konferenzen virtuell abgehalten werden, die Transportkosten sind deutlich gestiegen, größere Events während der Schau stehen bis jetzt auf wackeligen Beinen. »Für unsere Art der Zusammenarbeit war das ein schwerer Schlag«, sagt ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan. »Andererseits ist ein lumbung ja gerade für Krisenzeiten gedacht. Und besonders in Europa wurde vielen ihr lokaler Bezug und das Bedürfnis von Netzwerken durch die Pandemie erst richtig bewusst.«

Auch die Gudskul in Jakarta musste in den vergangenen zwei Jahren fast alle Workshops, Ausstellungen und Konzerte online abhalten. Um so ausgelassener ist die Stimmung, als der Holy Market kurz vor Weihnachten endlich wieder stattfinden kann. Trotz Dauerregens haben sich mehrere Hundert Besucher Richtung Süden aufgemacht. Richtig voll wird es nach dem Abendruf des Muezzins, der in der Dämmerung aus Dutzenden Lautsprechern über das Viertel dröhnt. Ein Teil des Publikums sind eingefleischte ruangrupa-Fans im mittleren Alter, die seit zwei Jahrzehnten zu allen Veranstaltungen der Gruppe pilgern. Sie wollen heute Abend vor allem das Live-Konzert von White Shoes & The Couple Company sehen, eine Pop-Band gemanagt vom ruangrupa-Künstler Indra Ameng. Ein Großteil der Besucher allerdings dürfte gerade mal um die 20 sein – ein beeindruckender Beweis dafür, wie gut die Initiatoren der Gudskul ihre eigene Regeneration beherrschen. Als schließlich die Funky-House-Band Prontaxan aus Yogyakarta loslegt, flippt die Menge aus und grölt die eher belanglosen Texte in javanischer Alltagssprache mit. Um 21 Uhr ist Schluss: Auch in Jakarta gilt wegen Covid wieder eine Sperrstunde.