Für den Ben Voigt ist es bereits seine fünfte Teilnahme am Finnmarksløpet, dem nördlichsten und härtesten Schlittenhunderennen Europas. Seit August hat er sich und seine Huskys auf den Wettbewerb vorbereitet. Die Temperaturen in Alta (Norwegen) liegen um den Gefrierpunkt, der Himmel ist bedeckt, es schneit. Auf dem Rücken trägt Ben die Nummer 31.
Nicht nur er ist nervös. Auch seine 14 Hunde zerren an den Leinen, stellen sich auf ihre Hinterpfoten, bellen und fletschen die Zähne. Er und sein Gespann werden von der Rennorganisation zur Startlinie gezogen.
Die Stimmung an der Strecke gleicht einem Volksfest. Die Menschen jubeln und klatschen, aus den Lautsprechern dröhnt norwegische Popmusik.
Um 11.31 Uhr setzt sich Bens Schlitten mit einem starken Ruck in Bewegung. Das Wetter klart auf, die Sonne zeigt sich - beste Bedingungen. Im Startbereich strecken rechts und links Zuschauer ihre Hände über die Absperrung, der 37-Jährige klatscht sie nacheinander ab. „Der Start ist immer sehr emotional. Da gilt es, die Nerven zu behalten. Ein bewegender Moment", erzählt Ben.
Unter den Kufen knistert der Schnee. Das Gespann mit Leithund Ruby an der Spitze gleitet durch die Winterlandschaft. Ben dreht sich um und hebt lächelnd den Daumen, er scheint zufrieden mit dem Start.
43 Teams nehmen an dem 1000-Kilometer-Rennen teil, das in 14 Etappen eingeteilt ist. Jedes Gespann besteht aus 14 Tieren; einem Leithund, Spitzen- und Teamhunden. Mit mindestens sechs muss der Musher (engl. Schlittenhundeführer) die Ziellinien in Alta überqueren. Auf den Schnellsten warten ein Preisgeld von 70 000 norwegischen Kronen, umgerechnet etwa 7600 Euro, und ein Quad.
Am ersten Checkpoint in Jotka, 50 Kilometer von Alta entfernt, macht Ben eine kurze Pause. Er wechselt die blauen Nylon-Söckchen der Hunde, die zum Schutz der Pfoten sind, und verteilt Leckerlis, Lachsscheiben. Der Fisch gibt den Tieren Energie. Pro Tag verbraucht ein Schlittenhund um die 10 000 Kilokalorien, erklärt Ben.
Eine endlos scheinende weite Schneelandschaft liegt jetzt vor ihm. Seine Tour Richtung Skoganvarre führt vorbei an zugefrorenen Fjorden, dichten Kiefernwäldern und verschneiten Tälern. Ein Winterparadies.
Gegen 00.45 Uhr startet Ben als fast Letzter des Teilnehmerfeldes. Der Vollmond ist hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden. Das anhaltende Schneegestöber schränkt die Sichtweite noch immer stark ein. Der Wind hat die Strohlager der Hunde über die schneebedeckte Ebene verteilt. Plötzlich ruft der Tierarzt Ben zu sich. Husky Lypser scheint sich an der Schulter verletzt zu haben. Bis zum Start der zweiten Etappe bleibt unklar, ob der Hund mit seiner Verletzungen weiterlaufen darf. Wird der Deutsche nach der ersten Etappe schon den ersten Hund verlieren? Bis zu 60 Kilogramm Gepäck hat Ben auf dem Schlitten dabei. Sieben Stunden wird er jetzt Richtung Levajok unterwegs sein. Mit dabei: ein Schlafsack für bis zu minus 50 Grad, Ausrüstung für die Hunde, Schaufeln, Reservefutter und sein Proviant: Minisalamis, Kekse, Cola, Apfelschorle. 108 Kilometer geschafft, erster Hund verletztMit leichter Verspätung kommt das Gespann gegen 20.30 Uhr am Checkpoint an. Die ersten 108 Kilometer sind geschafft. Ein Schneesturm fegt über die flache Landschaft. Ben wirft seinen roten Daunenparka ab und kümmert sich um die Versorgung der Hunde. Er macht ein Feuer und erwärmt Eiswasser aus einem angrenzenden See im Topf. In der lauwarmen Flüssigkeit quillt das Trockenfutter auf, den fertigen Sud füllt er mit einer Kelle in die Näpfe. Anschließend legt er Strohlager für die Tiere aus.
Der verletzte Husky hat sich ein wenig erholt. Die Tierärzte haben zugestimmt, Lypser darf weiter mitlaufen. Bens Team hat eine große Tasche gepackt, mit allem, was er auf der kommenden Tour braucht. Er nimmt sich die nötigsten Sachen heraus. Seine Crew darf bei den Vorbereitungen nicht helfen, schon kleinstes Eingreifen kann zu einer Disqualifikation führen.
Ben sind die Strapazen der Tour anzusehen. Seine Augen wirken müde, sein Gesicht gerötet, Eiskristalle haben sich in seinem Bart gebildet. „Die Etappe war schwer. Die Strecke war schlecht zu erkennen", erklärt er.Er setzt sich die Stirnlampe auf und wird auf die Strecke geschoben. Nach zehn Minuten ist Ben in die Nacht verschwunden, sein Licht erlischt am Horizont.
Zudem hat Ben einen Verlust zu melden. Lypser darf wegen seiner Schulterverletzung jetzt nicht mehr am Wettbewerb teilnehmen. Er wird das Rennen im Auto begleiten müssen. Nach dem Mittagessen steht Ben wieder auf dem Schlitten. Doch kurz nach dem Start droht ihm auf einmal die Disqualifikation!Im Wohnwagen findet Bens Team seinen Ledergürtel mit Messer. Ein wichtiger Bestandteil der Musher-Ausrüstung, der laut Reglement immer mitzuführen ist. Ein Ausschluss aus dem Wettbewerb will keiner riskieren bei einer Startgebühr von etwa 1000 Euro. Jetzt muss alles schnell gehen. Alle packen mit an. Der 37-Jährige fährt jetzt ohne Pause zwölf Stunden durch. Eine besondere Herausforderung für Mensch und Tier. Gegen Mitternacht wird Ben von seinem Team am Checkpoint Tana Bru erwartet. Nächtliche Strapaze auf ausgefahrenen SpurenBen fährt die Nacht durch. Ein GPS-Gerät hilft ihm auch in der Dunkelheit, nicht die Orientierung in der weiten Finnmark zu verlieren. Um 8.30 Uhr kommt der 37-Jährige in Levajok an. Der Checkpoint liegt in einem tiefen Tal, umgeben von mächtigen Gebirgszügen. Sein Team erwartet ihn bereits. Ehefrau Kati, Fahrer Tron Anton und Trainerin Andrea nehmen ihn in Empfang. Die obligatorische Tasche zur Versorgung der Hunde liegt im wadenhohen Schnee für Ben griffbereit. Das gleiche Prozedere wie in Skoganvarre beginnt. Erst danach darf er sich im Wohnwagen ausruhen.
Nach mehr als einer Stunde ist von Ben immer noch nichts zu sehen. Sein Team macht sich Sorgen. Eigentlich war er mit einem anderen Musher unterwegs. Doch der Mann ist bereits am Checkpoint angekommen, nur der Deutsche nicht. Die Temperaturen liegen bei minus zehn Grad. Zudem erschwert starker Wind die Fahrt. Ist Ben oder den Hunden auf der Strecke etwas passiert?Doch daran sind nicht nur die Wetterbedingungen schuld, sondern auch die anderen Musher. Die Schlittenspuren sind stark ausgefahren, weil das Teilnehmerfeld noch so eng beieinander ist. Die Hundepfoten brechen im aufgelockerten Pulverschnee ein; darunter leidet die Schnelligkeit.
„Wir haben dieses Jahr Pech", sagt der 37-Jährige kurz nach seiner Ankunft in Neiden. Nachdem schon drei Hunde ausgeschieden sind, haben die Tierärzte nun auch bei der Untersuchung von Leithündin Ruby etwas entdeckt.Das Equipment ist schnell im Bus verstaut. Das Team nutzt eine Straßenüberführung, die Ben passiert. Ehefrau Kati steigt aus dem Auto und übergibt die fehlende Ausrüstung. Der Deutsche ist wieder im Rennen.
„Die letzten drei Tage habe ich vielleicht eine Stunde lang die Augen zu gemacht. Das macht sich irgendwann bemerkbar", erklärt der Deutsche. Zwei Stunden Verspätung - Team in SorgeDer Ort mit 590 Einwohnern hat sich für das Finnmarksløpet herausgeputzt und am Haltepunkt einen kleinen Jahrmarkt mit Verkaufsbuden aufgestellt. Der angrenzende Hotelparkplatz gleicht einer Wagenburg. Überall stehen Camper und Kleinbusse. Stromaggregate surren, eine Gruppe Männer hat sich um ein Lagerfeuer versammelt und kocht Kaffee in einer gusseisernen Kanne.
Schließlich erreicht Ben gegen 2.30 Uhr Tana Bru, Hier wollte er eigentlich nur einen kurzen Stopp einlegen, Essen und Stroh einpacken für die Übernachtung draußen. Doch zwei weitere Hunde müssen das Gespann verlassen. Wieder sind es Schulterverletzungen. Elf Huskys laufen jetzt noch für Ben. Mit sechs muss er das Ziel erreichen, sonst wird sein Rennen nicht gewertet.
Sie scheint leichte Schmerzen an den Vorderpfoten zu haben. „Wir müssen jetzt Kräfte sammeln, es sind ja noch knapp 700 Kilometer bis ins Ziel, erklärt Ben. Alle Musher müssen eine 16-stündige Pflichtpause einlegen. Die Hunde werden jetzt bis zu dreimal gefüttert. Anschließend wird geschlafen.
Auch die angeschlagene Hündin Ruby muss wieder zu Kräften kommen. Falls sie am nächsten Tag nicht mehr starten dürfte, könnte das Rennen für Ben in Neiden enden.
Es ist kurz vor 6 Uhr. Ben stapft in der Morgendämmerung zu seinem Schlitten. Er zieht seine Strickmütze tief ins Gesicht. Die eisige Luft erschwert das Atmen, es riecht nach Rauch vom Lagerfeuer in einer angrenzenden Kote, einem traditionellen, kegelförmigen Zelt der arktischen Ureinwohner.
Tausende Euros und monatelanges Training hat er in das Projekt gesteckt. Doch auch die beste Vorbereitung nützt am Ende nichts, wenn schlechte Wetterbedingungen herrschen und das Quäntchen Glück fehlt: „Hunderennen ist wie Lotterie spielen", sagt Ben lächelnd, zieht den Metallanker aus dem Schnee und lässt sich von seinen Hunden ins nächste ungewisse Abenteuer ziehen.Der 37-jährige Musher löst zwei Karabiner aus seinem Gespann. Ruby und ein weiterer Hund haben sich in der 16-Stunden-Pause nicht erholt. Sie bleiben in Neiden. „Wir fahren jetzt von Checkpoint zu Checkpoint und schauen, wie es weitergeht", erklärt Ben. Er ist mit seiner momentanen Lage alles andere als zufrieden. Neun Tiere zählt sein Gespann jetzt, bis zum Ziel in Alta sind es mehr als 600 Kilometer. Vergangenes Jahr hatte Ben den Checkpoint in Neiden mit 14 Hunden erreicht.
Mit elf Stundenkilometern in ungewisse Abenteuer2017 ist die Konkurrenz beim Finnmarksløpet besonders stark. Die ersten zehn Plätze sind fast ausschließlich von Norwegern besetzt. „Es ist schon extrem beeindruckend, wie die Spitze das Rennen fährt und was die Hunde abkönnen. Ganz schön taff", meint Ben. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei elf Kilometern pro Stunde. Im Vergleich zum momentan schnellsten Musher liegt er knapp zwei Kilometer pro Stunde darunter. Bei Langstreckenrennen ist das üblich. Auf kurze Strecken kann ein trainiertes 14 Hunde starkes Gespann eine Geschwindigkeit von mindestens 30 Kilometer pro Stunde erreichen.
Um 10.09 Uhr klingelt das Telefon. Es ist Ben, fünf Minuten nachdem er mit seinem Schlitten in Kirkenes gestartet ist. Sein Team packt gerade die Taschen ins Auto für den nächsten Checkpoint. Der Anruf dauert nur Sekunden, es wird nicht viel gesprochen, nur genickt. Jeder ahnt, was passiert ist: Das Rennen ist vorbei. Nach drei Tagen, 23 Stunden und 42 Minuten endet für Ben das Abenteuer Finnmarksløpet.Für den Deutschen geht es bei diesem Rennen aber nicht ums Gewinnen. Sein Ziel ist es, mit möglichst vielen Hunden das Ziel in Alta zu erreichen und dabei vielleicht noch ein paar Plätze aus dem vergangenen Jahr gutzumachen.
Die Mindestanzahl für den Zieleinlauf in Alta ist jetzt schon erreicht. Die Stadt aber noch über 500 Kilometer entfernt. „Das Risiko wollte ich nicht eingehen", sagt Ben. Die innige Beziehung zu den Hunden „Von der Rennplanung und Durchführung hat alles gestimmt. Aber wir haben zu zeitig viele Hunde verloren. Es ist sehr unglücklich für uns gelaufen", resümiert der Deutsche. Diesmal hat die erbarmungslose Wildnis Norwegens über Mensch und Tier gesiegt. 1068 Kilometer, Tag und Nacht durch die endlose Finnmark - Eis, Schnee und Minustemperaturen bringen selbst erfahrene Musher an ihre Grenzen.Ben sieht zufrieden aus als er gegen Mitternacht den Ort Kirkenes an der norwegisch-russischen Grenze erreicht. Die Hälfte des Rennens ist geschafft. Der Schlittenhundetross macht jetzt kehrt Richtung Alta, 515 Kilometer sind es bis ins Ziel. Auch die Huskys wirken entspannt, sie schmeißen sich auf den Boden und wälzen sich im Schnee hin und her.
Alle neun Tiere haben die kräftezehrende Tour gut überstanden. „Wir haben sogar ein paar Gespanne überholt", erzählt Ben stolz. Zur Belohnung verteilt er neben dem Trockenfutter an jeden Hund noch zwei bis drei zusätzliche Lachsfilets und sagt: „Erst bei so einem Rennen lernt man die Hunde erst wirklich kennen und zu schätzen." Der Himmel ist sternenklar, die Nacht wird kalt. Ben zieht den Hunden windabweisende rote Shirts an, über die ruhenden Körper legt er Decken. Als der 37-Jährige bei seiner sechsjährigen Hündin Kiwi ist, bemerkt er, dass etwas nicht stimmt. Mit beiden Händen packt er sie um den Bauch und hebt sie vorsichtig von ihrem Strohbett. Ein leises Winseln hallt über den Platz. Ben versucht sie zu beruhigen. Seine Stirn ruht liebevoll auf ihrem Kopf. Die Pfote scheint dem Hund Schmerzen zu bereiten. Ben massiert ihr eine nach Pfefferminz riechende Salbe auf das Handgelenk. Eine Viertelstunde lang hockt er neben Kiwi im Schnee, hält das Pfötchen, bis sie eingeschlafen ist. Dann geht auch Ben schlafen.
Der Deutsche ist enttäuscht, bereut seine Entscheidung aber nicht. Drei Hunde haben über Nacht ein geschwollenes Handgelenk bekommen. Das Gespann hat sich auf sechs Tiere verkleinert.
Er löst die Leinen und trennt das Gespann vom Schlitten. Die Tiere werden in einen Anhänger mit Hundeboxen gebracht. Ben schließt die Metallverriegelungen der 14 Kästen. Die Hunde stupsen mit ihren schwarzen Nasen durch die Löcher der Holzwand - ein Gruß an ihr Herrchen.
Dass Ben und seine Hunde das härteste Schlittenhunderennen Europas bezwingen können, haben sie 2016 (Platz 13) und 2014 (Platz 15) gezeigt. Trotz der diesjährigen Niederlage ist der 37-Jährige motiviert und beginnt schon mit der Planung für 2018: „Nach dem Rennen ist vor dem Rennen. Es ist wie eine Sucht."