Am Morgen des 24. Februars 2022 begannen die russischen Truppen ihre Invasion der Ukraine, am Boden auch von Belarus aus über die Straße P-02 Richtung Kiew. In den ersten Stunden schien der Überfall noch nach Putins Plan zu laufen, doch schnell wurde klar: Das Militär hat sich in der Bewertung der Lage verschätzt. Der Vormarsch geriet ins Stocken, ein kilometerlanger Konvoi aus Panzern und Lastwagen erstreckte sich wochenlang über diese Straße. Die erste Phase des Krieges endete schließlich mit dem Rückzug der Russen aus dem Norden der Ukraine.
ZEIT ONLINE ist die Strecke, die die russischen Invasionstruppen nahmen, noch einmal gefahren und hat Menschen besucht, die vom Krieg überrascht wurden. Was haben sie erlebt, wie ist die Lage heute? Dieser Text ist Teil unseres Schwerpunkts zum Jahrestag der russischen Invasion.
Es war, als wollte Wladimir Putin der und der Welt gleich in den ersten Stunden seiner Invasion klarmachen, dass er gewillt ist, bis ans Äußerste zu gehen. Ausgerechnet Tschernobyl. Selbst, wer die vergangenen acht Jahre keine Zeitung aufgeschlagen und keinen Fernseher eingeschaltet hatte, wer nichts vom Krieg im Donbass und von der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim mitbekommen und die Maidan-Proteste verschlafen hatte, dem war dieser Name, das Synonym für eines der schlimmsten Reaktorunglücke in der Geschichte der Atomenergie, ein Begriff. Und jetzt rollten russische Panzer durch das verseuchte Sperrgebiet, auf dem Weg, sich das ganze Land einzuverleiben.
Ljudmyla Michajlenko, 45, ist Stationsärztin und eine von 6.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich darum kümmern, den havarierten Reaktor und seine Gewerke vor dem Zerfall zu bewahren. Am 23. Februar, dem Tag vor dem Überfall, trat sie ihre 15-Tage-Schicht an. Natürlich hatte Michajlenko von den Spannungen der vergangenen Wochen mitbekommen und auch davon, dass russische Soldaten in Belarus trainierten. Hellhörig wurde sie, als ihr jemand erzählte, die Armee bringe große Mengen Blutkonserven zu den Übungen mit. Aber das war bloß ein Gerücht.