Cherson am Fluss Dnipro war die erste und einzige ukrainische Großstadt, die Russland seit Beginn seiner erweiterten Invasion unter Kontrolle bringen konnte. Erst im November gelang es der ukrainischen Armee, die Stadt zu befreien. Für die Menschen in Cherson endete damals ein Martyrium aus Folter und Repression - und gleichzeitig begann ein neues: Die russischen Besatzer feuern nun nahezu ununterbrochen vom östlichen Ufer des Flusses. Eindrücke aus einer Stadt, in der täglich getötet und überlebt wird.
Im leeren Aschenbecher hinterm Tresen liegt ein Metallteil, etwa so groß wie ein Smartie. Vor knapp 24 Stunden lag es da noch nicht, sondern steckte im Bein eines Gastes. Der stand am Nachmittag vor der Tür des kleinen, unscheinbaren Imbisscafés, mit einem solchen Aschenbecher in der Hand, und rauchte eine Zigarette, als wenige Meter weiter eine einschlug. Man sieht noch den Krater im Asphalt. Zwei Metallsplitter trafen ihn ins Bein, vier in den Rücken. Die Bedienung, sie ist mit dem Mann befreundet, erzählt davon mit ruhiger Stimme. Den Splitter hat sie aufbewahrt, wie zum Beweis. Der Mann lebt, aber er ist schwer verletzt.
Am Morgen vor dem Einschlag hatten wir in dem Café selbst noch Schutz gesucht, als die Angriffe näher kamen. So nah, dass der Kaffee in den Pappbechern vibrierte. Die Kellnerin hatte uns mit einer gewissen Routine von den großen Fensterscheiben weggelotst und sich selbst hinter den Tresen zurückgezogen. Ein paar Stunden später traf es den Mann vor dem Laden.
So eine Explosion wäre in anderen Zeiten, an anderen Orten ein großes Drama. Hier, am westlichen Ufer des Dnipro, ist es eine kurze, betrübte Plauderei unter den wenigen verbliebenen Passanten. Zwischen und den russischen Truppen auf der anderen Flussseite liegen weniger als 600 Meter. Im Abstand von Minuten schlagen hier Raketen ein, am Ufer selbst lauern schwere Artillerie und Scharfschützen.
Es sind selten die ganz großen Kaliber, die Russland auf Cherson schießt. Auf derart kurze Distanz reichen meist Mörser und Granatwerfer. Deswegen gibt es in Cherson auch keinen Luftalarm - der wäre völlig nutzlos. Die einzige Warnung, dass man beschossen wird, ist das Geräusch einschlagender Raketen in der Nähe. Polizei und Armee verfügen über Schutzwesten und Helme, die meisten Chersoner aber haben nicht einmal diesen minimalen Schutz. Wer kann, vermeidet es, vor die Tür zu gehen, doch manchmal geht es nicht anders. U-Bahn-Schächte wie in Charkiw oder Kiew gibt es hier nicht. Wenn die Gefahr mal wieder besonders groß ist - und sie ist oft besonders groß -, kommen Menschen in die Cafés, um etwas Deckung zu finden. Hier hat man wenigstens eine Wand, die Metallsplitter und Geschossfetzen abfangen könnte. Draußen, auf den Gehwegen, ist man der Gefahr nahezu schutzlos ausgeliefert. "Ein Bekannter von mir ist an Heiligabend in seinem Auto verbrannt", sagt die junge Frau an der Bar, während sie Gläser ins Regal räumt. Es war die Folge eines Angriffs. Sie zögert kurz, dann sagt sie: "Ich habe Angst, vor die Tür zu gehen."
Es ist schwer, sich die Stadt in Friedenszeiten vorzustellen. Sich vorzustellen, dass etwa die quadratkilometergroße Schuttwüste vor der Stadt vor einem Jahr noch ein funktionierender internationaler Flughafen war. Dass es in Cherson einen friedlichen, langweiligen Alltag gab, nicht viel anders als in Essen oder Rostock. Heute herrscht in Cherson der Alltag einer tristen Frontstadt. Viele Geschäfte sind geschlossen, und die wenigen Minimärkte, Zoohandlungen und Bistros, die geöffnet haben, sind nicht gut besucht. Die größten Menschenansammlungen trifft man an den Tankstellen, wo sich Polizisten und Soldaten mit Zigaretten, Hotdogs und Automatenkaffee eindecken. Die Zivilisten, die man draußen trifft, wirken in ihrer unbeirrbaren Geschäftigkeit manchmal so, als würden sie das ganz normale Leben nachspielen. Sie stehen trotz der Gefahr im Freien vor einer Post- oder Bankfiliale in einer Schlange und warten, sie kehren altes, modriges Laub von den Gehwegen, als könnten sie den Krieg einfach wegfegen.
Die Explosion, die wir im Café erlebten und die dort die Spiegel an den Wänden zum Wackeln brachte, traf einen kleinen Bungalow in knapp 500 Meter Entfernung, der jetzt zusammengefallen daliegt wie ein Haufen Bauklötze. Im Haus befand sich niemand, doch auf dem Gehweg davor wurde eine Frau verletzt. Der Krankenwagen verschwand mit ihr so schnell, wie er kam. Die Rettungskräfte sind bei solchen Einsätzen in akuter Gefahr: Russische Soldaten beschießen manchmal Ziele, warten, bis Hilfe kommt - , Soldaten, Sanitäter -, und schießen dann noch mal in der Hoffnung, gerade diese Helfer zu treffen. In der Militärsprache nennt man das Double Tap, Russland soll diese Strategie auch schon in Syrien angewendet haben. Auch das Dach der Feuerwache wurde bereits von Angriffen zerstört.
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