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Von Banäpfeln und Kuhherzen

Ihre Gastfamilie hat Charleen ins Herz geschlossen und die junge Abiturientin fast schon adoptiert. Fünf Wochen lebte Charleen in Peru und reiste von dort aus weiter durch Südamerika. Foto: az


Coesfeld/Peru. Gespannt verfolge ich das kleine Miniaturflugzeug auf dem Bildschirm vor mir. In den vergangenen zehn Stunden hat der Flieger Europa hinter sich gelassen, mehrere Zeitzonen passiert und einen riesigen Ozean überquert. Die Flucht vor dem Sonnenuntergang ist ihm trotzdem nicht geglückt. Über den Anden holt ihn die Dunkelheit ein und die zwischen den gigantischen Bergen untergehende Sonne gibt ein nahezu magisches Bild ab. Hier, wo einst die Inkas ihrem Sonnengott huldigten, beginnt meine Reise: in Peru.

Eines der Highlights sind die Autofahrten. Schon die Geräuschkulisse ist einmalig. Modifizierte Hupen veranstalten bei stockendem Verkehr ein nervtötendes Konzert. Im Radio säuselt eine betörende Stimme zu Salsa-Klängen von der „amor de su vida" und meine Gastgeschwister Fabiana und Flavio stimmen lautstark in den Gesang mit ein. Während wir von einer Ampel zur nächsten kriechen, spazieren Frauen in traditionellen, bunten Alpakakleidern und langen, geflochtenen Zöpfen an den Autofenstern vorbei und preisen Schokolade, Nüsse, Bananenchips und Peru-Flaggen an - schließlich ist bald Nationalfeiertag.

Vorbei geht es an orange- und türkisfarbenen sowie mintgrünen Häusern, die sich wie bunte Farbtupfer von dem Hintergrund staubüberzogener Berge abheben. Alle paar Meter halten unter quietschenden Reifen Personenbusse, sogenannte Micros, am Straßenrand. Die aufgestellten Haltestellen werden so gut wie nie genutzt und Fahrpläne, sofern vorhanden, sind nur geringfügig verbindlich. Da die Micros grundsätzlich dreimal so viele Personen einladen, wie Kapazitäten vorhanden sind, ist ein Sitzplatz absoluter Luxus. Für umgerechnet 30 Cent komme ich nicht nur von Chosica nach Chaclacayo (entspricht der Strecke von Coesfeld nach Billerbeck) sondern erlebe eingequetscht zwischen den anderen Fahrgästen jedes Mal ein kleines Abenteuer.

Ein Erlebnis der kulinarischen Art erwartet mich im Supermarkt. Kaum eingetreten, türmen sich vor mir Früchte in allen erdenklichen Größen, Formen und Farben auf. Da gibt es zum Beispiel die plátano manzanito, wie der Name schon sagt, eine Kreuzung aus Banane und Apfel. Ein paar Schritte weiter rollt eine gigantische Lawine von Kartoffeln in mein Blickfeld. Über 50 verschiedene Sorten nehmen fast die Hälfte der Gemüseabteilung ein und „das ist nur ein Bruchteil der Sorten, die es in Peru gibt", erklärt man mir. In den fünf Wochen meines Aufenthaltes habe ich also nicht nur eine Vielzahl neuer Kartoffelsorten probiert, sondern auch kiloweise Reis verdrückt und mindestens drei Kuhherzen gegessen (genau wie Meerschweinchen am Stück eine Delikatesse des Landes). An der Kasse greife ich wie selbstverständlich zu den Tüten, um die Einkäufe einzupacken. Meine Gastschwester Fabiana hält mich entsetzt davon ab. „Es kommt jemand, der die Tüten packt und zum Auto bringt". Und tatsächlich: Wenig später kommt ein junger Mitarbeiter in Poncho und mit buntem Hut um die Ecke. „In einer Woche ist Nationalfeiertag", beantwortet Fabiana meine unausgesprochene Frage.

Lateinamerika ist Temperament und Leidenschaft. Das zeigt sich auf den Fiestas. Kaum ertönen aus den Boxen Salsa, Reggaeton oder Bachata, scheint das Blut in den Adern der Latinos zu pulsieren und andächtig im Takt der Musik schwingende Hüften, flink tappende Füße und wild umherwirbelnde Gliedmaßen füllen die Tanzfläche in Sekundenschnelle. In deutscher Manier am Rand stehen bleiben und unbeholfen von einem Bein aufs andere wanken - ein absolutes No-Go.

Just am día del Perú geht es für mich durch festlich geschmückte Straßen und zwischen mit Fahnen verzierten Autos in Richtung Flughafen. Im Gepäck habe ich neben Inca Kola und Bananenchips auch neue Vokabeln, unvergessliche Erinnerungen und ein bisschen von der peruanischen Mentalität. Doch auf der anderen Seite lasse ich auch einen Teil meiner Familie zurück- den peruanischen nämlich. Nach fünf Wochen, nicht wenigen Verständigungsproblemen und den sonntäglichen Familienausflügen in den örtlichen Club, hat mich meine peruanische Familie so gut wie adoptiert. „Wir sind wie Sublime Duo (eine peruanische Schokolade, die sowohl aus schwarzer als auch aus weißer Schokolade besteht)", sagt mein Gastbruder Flavio schmunzelnd. „Obwohl wir verschieden sind, gehören wir doch zusammen".

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