Zwei Frauen, zwei Generationen, Mutter und Tochter. Charlotte Roche hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Extremen gewidmet. Die ehemalige Viva-Moderatorin schreibt explizite Bücher, redet im Podcast freizügig über ihre Beziehung oder springt im Fernsehen mit Karabinerhaken im Rücken von Brücken. Mit ihren Kolumnen für überregionale Zeitungen entlarvt die 41-Jährige regelmäßig die eine oder andere verstaubte Altherrenmoral. Ihre Tochter Polly, knappe 17, ent- wickelt gerade ihre ganz eigene Stimme. Und ist dabei genauso frei und selbstbestimmt wie ihre Mutter. Tagtäglich unterwandert sie die Grenze zwischen Jugend und Erwachsensein, so, wie es ihr gerade gefällt. Neben dem Lernen für das Abitur ist die reflektierte junge Frau als Aktivistin im Netz und Talent auf Modeproduktionen unterwegs. Für WUNDER standen Charlotte und Polly ausnahmsweise gemeinsam vor der Kamera — und nutzten die Chance für ein intimes Mutter-Tochter-Gespräch. Über die Zukunft, Frauenbilder, Gefühle, Gemeinsamkeiten und natürlich ihre Beziehung zueinander.
WUNDER Charlotte, in einem Interview nanntest du einmal auf die Frage nach deinem literarischen Vorbild Polly Peachum aus der Dreigroschenoper. Hat das etwas mit deiner Tochter zu tun?
CHARLOTTE In der Schule haben wir in der Theater-AG Brecht gespielt und ich dachte damals schon, was für ein cooler Name das ist. Als Teenager war ich außerdem Nirvana-Fan. Polly wants a cracker, da war sie schon wieder.
POLLY Und es gibt die Sängerin Polly Jean Harvey. PJ war lange mein Spitzname.
C Was es mit Polly Peachum in der Dreigroschenoper auf sich hat, weiß ich nicht mehr. Ist sie Prostituierte?
W Sie lässt sich mit dem Räuberkönig Mackie Messer ein und brennt mit ihm durch.
C Polly, hör nicht hin!
W Ihr lebt als Patchwork-Familie, zu der neben Charlottes
langjährigem Partner Martin auch dessen Sohn gehört.
Wer wohnt denn eigentlich wo?
P Früher habe ich im wöchentlichen Wechsel bei meinem Vater und meiner Mutter praktisch aus der Reisetasche gelebt. All das Packen, der totale Stress. In den letzten Monaten bin ich wegen der Schule deshalb mehr bei Mama.
W An welchem Punkt stehst du momentan in der Schule? Gerade bin ich in die 12. Klasse gekommen — bald mache ich Abitur. Noch vor meinem 18. Geburtstag. Meine Schule ist sehr leistungsorientiert, weswegen ich momentan generell gestresst bin. Oft habe ich das Gefühl, dass ich das an dir auslasse, Mama. Was ja auch okay ist, weil ich das darf.
C Ich finde es cool, dass du zu deiner Mutter sagen kannst: Halt die Fresse (lacht). Dass du keine Angst haben musst, bestraft zu werden. Gerade innerhalb der Familie muss man doch mal Dampf ablassen können, wenn es einem schlecht geht. Wenn ich Wut abbekomme, die mich gar nicht betrifft, nehme ich sie an wie ein Wellenbrecher.
P Das hört sich doof an — wenn ich sauer bin, lasse ich das an dir aus. Aber manchmal fühle ich mich so gestresst, dass ich mir denke: Wie kann ich das alles schaffen? Es ist gut zu wissen, dass jede Emotion erlaubt ist.
W Bald ist zumindest der Schuldruck vorbei. Wie geht es weiter?
P Ich denke viel darüber nach, was kommt. Das ist auch mit Angst verbunden. Denn ein richtiges Ziel habe ich nicht. Ich träume nicht davon, es auf eine bestimmte Uni zu schaffen und dann den Rest meines Lebens das gleiche zu arbeiten. Erst einmal möchte ich fertig werden und viel reisen.
C Das finde ich eine gute Einstellung. Und das ist auch das, worüber wir momentan zu Hause am meisten reden. Ich sage dir jetzt nichts anderes: Du musst beruhigt werden. Um dich herum behaupten so viele, dass sie wissen, was sie werden wollen und arbeiten zielstrebig darauf hin. Oft machen die nur das, was die Eltern wollen. In Wahrheit sind das die Ziele ihrer Eltern. Ich sage immer: Polly, die werden das nicht. Da passiert noch so viel, bis man mit der Uni fertig ist. Verlieben! Umziehen! Schwanger werden! So viel, was den Plänen einen Strich durch die Rechnung machen kann. Du wirst bestimmt 100, da kannst du einfach vier oder fünf Jobs lernen. Ich habe ein blindes Urvertrauen in dich. (beide umarmen sich).
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