Mahabat Sadyrbek ist erfreut und resigniert, wenn sie sieht, wie Schülerinnen in ihrer einstigen Mittelschule nach dem Unterricht noch die Blumen gießen. Erfreut, weil sie weiß, dass die 15-jährigen Mädchen damit ihren Fleiß demonstrieren. Resigniert, weil sie auch weiß, dass die Schülerinnen hier keine blühende Bildung erfahren, denn in der Schule mangelt es an so vielem. Der Geschichtslehrer hat keine Lehrbücher, der Musiklehrer keine Instrumente, Englisch unterrichtet nur die Direktorin, die mal ein bisschen Französisch gelernt hat, für Mathe und Physik gibt es kein Personal. Die Räume sind im Winter auch bei minus 25 Grad nicht beheizt, bis vor kurzem gab es nicht mal eine Toilette für die Kinder, sie erledigten ihr Geschäft im Pausenhof.
Es ist noch fast so wie vor 18 Jahren, als Sadyrbek auf die Mittelschule in Ak-Talaa ging, einem entlegenen Bergdorf in den Hochsteppen Kirgisiens, in dem hundert Familien leben - von eigenem Anbau und Viehzucht, ohne fließend Wasser oder gar Internet. Nahe der schneebedeckten Gipfel der Himalaya-Ausläufer wuchs Sadyrbek als Hirtenmädchen bei ihren Großeltern auf. Sie verbrachte mehr Zeit mit den Schafen auf der Weide als in der Schule.
Heute kennt die ganze Region Sadyrbek. Seit sechs Jahren sammelt die 32-Jährige Spenden für ihr Heimatdorf. Die Schuldirektorin hat sich ein gerahmtes Bild von ihr an die Wand gehängt. Ganz Ak-Talaa verehrt die zierliche Frau mit der Brille und den deutschen Trekkingschuhen. Denn sie hat sich ohne viel Geld und Förderung erkämpft, was für Kirgisen unerreichbar erscheint: Sie ist Doktorandin der Graduate School Muslim Cultures and Societies an der Freien Universität Berlin. "Ich wollte nichts im Leben so sehr wie Bildung", sagt Sadyrbek.
Schwer zu erlernen, leicht zu kaufen
Doch dafür war sie im falschen Land. In Kirgisien kann man schwer etwas lernen, es sich dafür aber leicht erkaufen. "Das Bildungssystem ist desaströs unterfinanziert und durchgehend korrupt", sagt Jana Dümmler, Leiterin des DAAD-Büros in Bischkek. Das kleine, gebirgige Binnenland verfügt kaum über Rohstoffe. Hinzu kommt die ausufernde Korruption. Im Korruptionswahrnehmungsindex 2010 von Transparency International steht Kirgisien ganz unten: auf Platz 164 von 178 Ländern weltweit.
Schon die Sitzordnung in der Schule hängt vom Geldbeutel ab, je weiter vorn, desto teurer. Manche Unis haben feste Preislisten für Prüfungen. Dass jemand sein BWL-Diplom macht, ohne je eine Vorlesung besucht zu haben, ist keine Seltenheit. Aus den Bildungshäusern strömen Manager, Ärzte, Lehrer mit geringen Fachkenntnissen. Zum Schaden der ganzen Wirtschaft: Das Fehlen von qualifiziertem Personal ist laut der deutschen Botschaft in Bischkek ein großes Hemmnis für Investoren.
Dabei kommt das Land in Sachen Bildung auf den ersten Blick recht ordentlich daher. Schulmädchen mit glattgestriegelten Pferdeschwänzen und weißen Rüschchen im Haar laufen durch das saubere Stadtzentrum der Hauptstadt Bischkek. Rund die Hälfte der 19- bis 23-Jährigen studiert. Die 5,5 Millionen Einwohner Kirgisiens können sich an mehr als 50 Hochschulen einschreiben und die Vorlesungen meist in sowjetischen Prachtbauten hören.
Zweimal letzter Platz bei Pisa
Warum Kirgisien beim Bildungsvergleich Pisa 2006 und 2009 dennoch zweimal den letzten Platz einstecken musste, verwundert nach einem Besuch im Kurs "Professional English" an der Verwaltungsakademie in Bischkek nicht mehr so sehr. Studenten der Internationalen Beziehungen, fünftes Semester, sollen über die Präsidentschaftswahl diskutieren. 16 Studenten sind in den Kurs eingeschrieben, acht anwesend, drei beteiligen sich mit stockendem Englisch am Gespräch. Es sind sich jedoch alle einig, es entsteht keine Diskussion - sondern eher der Eindruck, dass die Studenten weder viel Englisch noch Politik vermittelt bekommen haben.
Uni ist hier eher Mittelschule, es gibt feste Klassen mit festen Stundenplänen. Mit dabei ist auch Rahim, 22. Statt zu Hause Stoff zu wiederholen, fährt er Taxi. So kann er sich die Studiengebühren leisten und am Ende des Semesters die Abschlussnote eins erkaufen, in ritualisiertem Ablauf: Er drückt dem Klassenältesten, dem sogenannten Freelancer, ein paar Scheine in die Hand. Dieser bringt sie zum Professor, der als Gegenleistung die Prüfungsnote einträgt.
"Es sind häufig die schlechtesten Uniabgänger, die Lehrer und Dozenten werden", sagt Jana Dümmler vom DAAD. Denn Lehrer verdienen nach wie vor so wenig, dass sie auf zusätzliche Geldquellen angewiesen sind - etwa Schmiergeld. "Gute Lehrkräfte wandern ab."
"Man kam sich komisch vor, wenn man gebüffelt hat"
Obwohl den Studenten bewusst ist, dass sie mit ihrem Uni-Abschluss geringe Qualifikationen erwerben, zahlen sie jährlich bis zu 3600 Euro Studiengebühren - plus um die 15 Euro Bestechungsgeld pro Note. "Man kam sich schon komisch vor, wenn man gebüffelt hat, während sich andere gute Noten mit ein paar Scheinen holten", sagt Sadyrbek. Wissen hat sie sich damals größtenteils zu Hause angeeignet, denn in der Universität gab es wenig Förderung.
Auch Rahim würde gern im Ausland studieren, sagt er leise nach dem Englischkurs. Aber die finanziellen Hürden sind hoch und noch dazu drängen ihn die gesellschaftlichen Erwartungen in eine andere Richtung. Wer als Mann den Abend mit seinen Lernbüchern verbringt, wird schnell als schwul abgestempelt.
Kirgisien legt seit seiner Unabhängigkeit großen Wert auf alte Traditionen und die eigene Identität, die in der sowjetischen Zeit unterdrückt waren - das fängt bei den Geschlechterrollen an. Ein guter Sohn steht für Mut und Trinkfestigkeit. Es sind eher die Töchter, von denen sich Eltern gute Noten und Fleiß erhoffen, auch wenn sie ihr Zeugnis wohl kaum nutzen werden, da ihr Platz in den patriarchalischen Strukturen hinter dem Herd wartet.
Ihre Doktorarbeit schreibt sie im Liegen
Es war für Sadyrbek wie ein Märchen, als sie sich mit 19 Jahren gegen Hunderte Bewerber durchsetzte und ein Stipendium für einen dreimonatigen Sprachkurs in Bremen erhielt. Gleich nach dem Kurs stand für Sadyrbek fest: Hier bleibe ich. Bis heute wohnt sie in Deutschland. Sie musste sich alles allein erarbeiten, ohne elterliche Finanzspritzen, ohne Kontakte, ohne wirkliche Vorbildung.
Um den Wissensstand deutscher Studenten aufzuholen, sog Sadyrbek von Dokumentarfilmen über Politikerbiografien alles auf, was ihr in die Finger kam. Sie studierte in Hannover erfolgreich die Fächer Politik, Germanistik und Europawissenschaften - gefördert mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Gleichzeitig arbeitete sie mehrmals die Woche als Krankenpflegerin. Dabei belastete sie ihren Rücken übermäßig, litt jahrelang unter starken Schmerzen. Bis heute ist sie nicht ganz gesund, ihre Doktorarbeit - über Vergeltungsregeln der Kirgisen - schreibt sie deshalb im Liegen.
Das hält sie aber nicht davon ab, ihre freie Zeit Hilfprojekten für Kirgisien zu widmen. Im September hat sie eine Biotoilette für die Mittelschule in Ak-Talaa ermöglicht, gerade kauft sie von Spendengeldern Schulbücher und Musikinstrumente. Einige Tausend Euro und zwei Tonnen Klamotten hat sie bereits für ihre Landsleute gesammelt. Und Sadyrbek sammelt weiter, auch wenn die Bedarfsliste kein Ende nimmt. Vielleicht hört man sie deshalb häufig sagen: "Ich hasse und liebe Kirgisien."