Mistail. Unter den Schuhen knacken Äste, die Füße stolpern über Steine, nur ab und zu blitzt die Mondsichel durch das Blätterdach. Zum Glück hat einer der Wanderer eine Taschenlampe dabei, sonst wäre dieser Spaziergang durch die finstere, gebirgsfrische Sommernacht in Graubünden ein halsbrecherisches Unterfangen.
Etwa zehn Minuten nachdem die Gruppe den Parkplatz bei Alvaschein verlassen hat, öffnet sich der Waldweg hin zu einer Lichtung. Der Blick fällt auf die drei Apsiden und den Turm der mittelalterlichen Kirche von Mistail, die sich ein paar Schritte entfernt unheimlich gegen den nachtblauen Himmel abhebt.
Hinter den Rundbogenfenstern der Kirche flackert Kerzenlicht, am Seiteneingang sind Gestalten zu erkennen, die miteinander zu flüstern scheinen. Aus dem Kircheninneren ertönt gregorianischer Gesang - die Sänger des Ensembles Vocal Cantori proben für die Aufführung der Laudes, pünktlich um 5.30 Uhr bei Sonnenaufgang. Die Laudes sind ein Kernstück des Kulturfestivals Origen, das seit 2005 jedes Jahr im Sommer mehrere Wochen an verschiedenen Orten im Surses-Tal (Oberhalbstein) im schweizerischen Kanton Graubünden stattfindet.
In dem westlich des Engadins gelegenen Hochtal sprechen die meisten Einheimischen noch Rätoromanisch - die vierte Landessprache der Schweiz und Muttersprache von rund 40000 Menschen. Der Name „Origen" weist darauf hin. Übersetzt bedeutet es so viel wie Ursprung, Herkunft oder auch Schöpfung. Aber Origen ist bewusst kein rein rätoromanisches Festival. Ein Markenzeichen des alpinen Durchgangstals kurz vor dem Julierpass ist die Mehrsprachigkeit - auch Deutsch und Italienisch sind hier geläufig.
Als Sommerferiengast kann man die wichtigsten Stationen des Festivals kaum verpassen: Wenn man von Tiefencastel auf der Schnellstraße in Richtung Julierpass in das Tal hineinfährt, taucht bald rechterhand eine mittelalterliche Trutzburg auf, die vor dem Bergmassiv wuchtig in die Höhe ragt. In der Vergangenheit lohnte sich ein Abstecher nach Riom und zu der gleichnamigen Burg aus dem 13. Jahrhundert kaum. Lange Zeit bereicherte das Gebäude nur als Ruine das Panorama. Zwar hatte es in den 1970er Jahren ein neues Dach erhalten, innen war bis vor wenigen Jahren aber nur ein leerer Raum zu sehen, der ab und zu für Kulturveranstaltungen genutzt wurde.
Doch seit 2006 ist in der Burg die Hauptspielstätte des Festivals Origen und somit „das erste professionelle Theaterhaus der rätoromanischen Kulturgeschichte" - wie die Festivalmacher ihre Burg stolz nennen. Um das leerstehende Gebäude in einen funktionsfähigen Theaterraum umzugestalten, wurde ein provisorischer „Bau im Bau" konstruiert: Die steil nach oben führende Zuschauertribüne, die den klaren Linien zeitgenössischer Architektur folgt, bildet einen deutlichen Kontrast zum unverputzten Mauerwerk der Burg und schafft damit eine erstaunliche dramatische Wirkung. In diesem Raum, der etwa 220 Zuschauern Platz bietet, wurden in den vergangenen Jahren mehrere Opern uraufgeführt, die eigens für das Origen-Festival komponiert wurden.
Nicht weit von Riom entfernt liegt Savognin, das touristische Zentrum des Surses-Tals. Hier treffen sich im Sommer Bergwanderer und Mountainbiker, die zumindest einen Teil der 1080 Kilometer Wanderwege und über 240 Kilometer Bikerouten der Region erkunden wollen. Von hier aus kann man gut die Hauptattraktionen rund um das Tal erreichen wie die Moorlandschaft bei der ganzjährig bewohnten Alp Flix oder die von der UNESCO im Jahr 2008 zum Weltkulturerbe erklärte Strecke der Rhätischen Bahn in der Kulturlandschaft Albula.
Savognin ist nicht so bekannt wie die Tourismuszentren im Engadin, aber ein beliebter Ferienort. Denn von dieser Seite sind die zerklüfteten Berglandschaften nicht weniger spektakulär. Außerdem ist das Klima etwas milder als im höher gelegenen Nachbartal. Auf knapp 1000 Einwohner kommen in Savognin etwa 4000 Gästebetten, vor einigen Jahren ist zu den alteingesessenen Sporthotels und Pensionen noch ein Cube-Designhotel dazugekommen.
Zwar hat Savognin durch den Aufbau einer touristischen Infrastruktur seit den 1960er Jahren den Charakter eines beschaulichen Bergdorfs etwas verloren, bei einem Spaziergang durch den Ort kann man aber immer noch ein paar architektonische Kleinode entdecken. Besonders prachtvoll ist die Barockkirche Son Martegn, die innen mit einem monumentalen Deckengemälde des Mailänder Malers Carlo Nuvolone geschmückt ist.
Giovanni Netzer, Origen-Initiator und -Intendant, ist die Seele des Festivals. Der 43-Jährige ist in Savognin geboren und aufgewachsen, verließ den Ort als junger Erwachsener aber, um in Chur und München zu studieren. Nach dem Abschluss seiner Dissertation über das rätoromanische Barockdrama kehrte er in seine Heimat zurück. Mit einer ziemlich verrückten Idee: Er wollte in der dörflich geprägten Region seines Heimattals mit nur knapp 2500 Einwohnern ein professionelles Theaterfestival auf die Beine stellen, das die regionalen Traditionen des Volkstheaters und des Volkslieds aufgreift und mit zeitgenössischem Musiktheater verbindet.
Mit unermüdlichem Einsatz gelang es Netzer, Förderer und Stifter für das Projekt zu finden, Mitstreiter zu motivieren und ein beachtliches Ensemble von jungen Künstlern zusammenzustellen. Sein jüngster Coup: Er überzeugte den Schweizer Star-Architekten Peter Zumthor, den bisherigen Theaterraum der Burg Riom in den nächsten Jahren umzubauen. Zumthor zeigt sich begeistert: Origen sei wirklich etwas ganz Eigenes, nichts, was es auch in Zürich oder St. Gallen in größerer Ausführung gebe, sagt der Architekt, der Graubünden zu seiner Wahlheimat gemacht macht.
Im vergangenen Sommer besuchten 8600 Zuschauer das Festival. Nur etwa 15 bis 20 Prozent von ihnen kamen aus der unmittelbaren Umgebung. Die meisten Besucher sind Feriengäste und Schweizer Kulturtouristen vor allem aus Region Zürich, die über die Medien von Origen erfahren haben. Denn während anfangs nur die Graubündner Zeitungen über das Festival berichteten, sind inzwischen auch die Kulturredakteure der großen Zürcher Zeitungen und der Schweizer „Tagesschau" auf Origen aufmerksam geworden.
Hilfreich war dabei sicher, dass Netzer 2007 den Hans-Reinhart-Ring verliehen bekam, den bedeutendsten Schweizer Theaterpreis - und damit plötzlich in einem Atemzug mit Theatergrößen wie Bruno Ganz genannt wurde, der den Ring wenige Jahre zuvor erhalten hatte.
„Origen" bedeutet für Netzer nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Volkskultur und den christlichen Kulturtraditionen des katholisch geprägten Tals, sondern immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Lebensraum der Talbewohner, mit der Natur. Im vergangenen Jahr ließ der Origen-Intendant einen temporären, offenen Theaterbau auf dem Julierpass auf über 2200 Meter Höhe errichten.
Als Kulisse dienten die Berge. Von ihren überdachten Plätzen konnten die Zuschauer das Farbenspiel bei Sonnenuntergang, den klaren Sternenhimmel oder die Naturgewalt bei einem Gebirgsgewitter beobachten, während die Tänzer auf der Bühne eine spannungsgeladene Begegnung zwischen der Königin von Saba und König Salomo mimten.
Auch dieses Jahr will das Festival wieder hoch hinaus. Vom 1. Juli bis 15. August widmet es sich dem Thema „Paradies". Zentrale Aufführungen werden eine neue Oper namens „Mikael" und die Freilichtkomödie „Casper" sein, in der es um einen Bauern geht, der den Tod erpresst. Auch die Laudes in der ehemaligen Klosterkirche Mistail stehen wieder auf dem Spielplan.
Der gregorianische Morgengesang ist ein Dauerbrenner. Trotz der frühen Uhrzeit sind die Bänke in der Kirche immer bis auf den letzten Platz besetzt. Wer schon einmal dabei gewesen ist, weiß, dass sich das frühe Aufstehen lohnt. Nach den Gesängen kann man morgens um 6.00 Uhr erfrischt in den noch jungen Sommertag starten - ins Naturparadies eines kleinen Graubündner Tals.