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Flüchtlingslager Calais: Ein Arzt kam erst kurz vor der Geburt

Der Arbeitsweg von Léa Burel und Lucile Jérôme ist staubig. Die jungen Frauen in den beigen Cargo-Westen müssen Pfützen ausweichen und über Sanddünen klettern. Vorbei an Müllbergen und Dixie-Klos, an Männern, die sich unter freiem Himmel rasieren, an Holzverschlägen, in denen Coladosen zum Verkauf angeboten werden. Zielstrebig gehen sie durch die kleinen Straßen, die zwischen den Zelten verlaufen, und passieren bunt beklebte Hütten, auf denen Schilder wie „Khyber Darbar Restaurant" Kunden anlocken sollen. Eine Stadt in Frankreich, die eigentlich nicht in ihr Land passt, wird Burel später sagen. Eine Stadt, die auch ein afghanisches Viertel hat oder sagen wir eher: eine afghanische Wohnwagensiedlung. Eine Familie, die dort lebt, hat vor ein paar Tagen ihr zweites Kind bekommen. Burel und Jérôme wollen sehen, ob es der Mutter und dem Neugeborenen gutgeht.


Die Hebammen arbeiten im sogenannten „Dschungel", dem Flüchtlingslager von Calais, das seit Montag geräumt wird, ehrenamtlich für die französische Hilfsorganisation „Gynécologie Sans Frontières" (Gynäkologie ohne Grenzen, kurz GSF). Die meisten der Tausenden Migranten, die bisher in die nordfranzösische Hafenstadt kamen, wollen über den nahen Ärmelkanal nach Großbritannien fliehen. Deshalb leben sie als Illegale. Um ihre medizinische Versorgung kümmern sich nichtstaatliche Hilfsorganisationen wie GSF.

Der „Dschungel" ist allerdings über die Grenzen des Landes hinaus für seine katastrophalen humanitären Zustände berüchtigt. Die Regierung lässt das Camp daher räumen und siedelt die Bewohner in Aufnahmezentren in ganz Frankreich um. GSF will trotzdem bleiben, bis sie nicht mehr gebraucht werden.


Freiwilligenarbeit in Calais statt Urlaub

Lucile Jérôme und Léa Burel sind am Wohnwagen der afghanischen Familie angekommen. Auf einem Tischchen neben der Wohnwagentür stehen Wasserkanister. Daneben ein dreckiges Stück Seife und ein Topf mit Essensresten. Die Hebammen klopfen an der Tür. Der Vater macht auf, zwischen seinen Beinen windet sich ein kleines Kind mit voller Windel. Eine knappe Armlänge entfernt, öffnet sich im Nachbarwohnwagen das Fenster. Ein dunkelhaariger Junge schaut zu, wie die Frauen eine Waage auspacken und mit eingezogenem Kopf zu der Mutter in den kleinen Wohnwagen klettern. Burel hockt auf dem Boden, während Jérôme das Kind wiegt. Sie notiert: Gewicht: 3,2 Kilogramm. „Wir müssen ihr erklären, dass wir die Kleine impfen lassen wollen. Vielleicht können wir den Nachbarn fragen, der Englisch spricht, ob er für uns übersetzen kann?"


Bure, 28 Jahre alt, und Jérôme, 29, sind Hunderte Kilometer weit aus Nantes und Aix-en-Provence nach Calais gekommen, um den Frauen in dem Flüchtlingslager zu helfen. Statt Urlaub machen die Hebammen Freiwilligenarbeit. Zwei Wochen dauert ihr Einsatz im „Dschungel", dann werden sie von anderen Helferinnen abgelöst. Für Beratungen oder kleinere Untersuchungen hat die Organisation ein kleines Sprechzimmer in einem Containerpark im Lager oder besucht die Frauen in ihren Unterkünften. Zu komplizierteren Untersuchungen fahren sie ihre Patientinnen ins Krankenhaus.


Die Hebammen kümmern sich zudem darum, dass Schwangere dort einen Geburtstermin bekommen, oder vermitteln, falls diese abtreiben wollen. Dies kommt jedoch eher selten vor. Die Frauen kommen vor allem, weil sie Verhütungsmittel benötigen, schwanger sind, eine Infektion oder Blutungen haben. Die Hebammen legen für ihre Patientinnen eine Krankenakte an, die diese auf ihrer weiteren Flucht mitnehmen können. Wenn die Frauen zum ersten Mal zu ihnen in die Sprechstunde kommen, wissen die Freiwilligen jedoch meist wenig über den Schwangerschaftsverlauf oder Vorerkrankungen. Dazu kommt die Sprachbarriere. Die Hebammen müssen improvisieren.


Was noch gebraucht wird: ein Schutzraum für Frauen

So auch bei Silan Palani, die in Wirklichkeit anders heißt. Die hochschwangere Irakerin liegt auf dem Behandlungstisch in der Containerpraxis. Palani steht kurz vor dem Geburtstermin. Wie kurz, das weiß sie nicht, denn Jérôme und Burel sind die Ersten, die die Herztöne des Babys untersuchen. Der CTG-Sensor ist mit einem Schal auf Palinis Bauch befestigt, einen Gurt haben die Hebammen nicht. Jérôme fragt auf Englisch: „Wann war Ihre letzte Periode?" Sie muss es zwei Mal wiederholen, bis Palani versteht. Die Irakerin notiert das Datum auf einem Zettel. Noch drei Tage bis zum Geburtstermin, errechnen die Freiwilligen. Palanis Mann wird die Geburt des Kindes nicht miterleben können: Er ist schon in Großbritannien.


Jérôme und Burel können meistens nur erahnen, was ihre Patientinnen erlebt haben. „Ich versuche, neutral zu bleiben und auf die Bedürfnisse einzugehen, die die Frau im entsprechenden Moment gerade hat", erklärt Burel. Am selben Tag haben sie einen Termin mit einer Frau, die besonders behutsam behandelt werden muss. „Das ist die verstörendste Geschichte, die ich je gehört habe", so Jérôme. Was passiert ist, will sie nur andeuten: Die Minderjährige wurde auf der Flucht Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Die Hebammen wollen sie treffen, um sie darauf vorzubereiten, dass sie sie am nächsten Tag mit ins Krankenhaus nehmen möchten, um sie auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen. Dabei versuchen sie die Frau so weit wie möglich von der Außenwelt abzuschirmen.


Einen Schutzraum nur für Frauen zu schaffen, das ist das Ziel der Hilfsmission, die GSF in Calais und in vier anderen kleineren Camps der Region zwischen der belgischen Grenze und der nördlichen Küste aufgebaut hat. Wilde Flüchtlingslager sind in der Gegend seit Jahrzehnten ein Problem. Im vergangenen Jahr hat sich die Situation mit der Ankunft vieler Hunderter Flüchtlinge mehr noch einmal verschlimmert.


Alexandra Duthe ist es zu verdanken, dass es den Frauen inzwischen ein bisschen bessergeht. Die Hebamme arbeitet ehrenamtlich für GSF und die Feuerwehr. Im Sommer 2015 wurde sie zusammen mit den Rettungshelfern zu einem Notfall ins Camp in Norrent-Fontes gerufen, einem kleinen Ort, der etwa 70 Kilometer von Calais entfernt im Landesinneren liegt.


Viele schwangere Frauen wurden noch nie untersucht

„Die Lebensbedingungen haben mich schockiert", so die 36-Jährige. „Die Menschen lebten in Zelten im Schlamm. Es gab kein fließendes Wasser, nur Wannen, wie für Kühe." Unter den etwa 200 Bewohnern waren viele Frauen aus Nordostafrika, einige waren schwanger. Eine Möglichkeit, ins nächste Krankenhaus zu kommen, gab es nicht. Nur ein Allgemeinarzt, der ehrenamtlich seine Dienste anbot, kam zwei Mal in der Woche vorbei, schildert Duthe. „Ich wollte einer Frau, die kurz vor der Entbindung stand, Blut abnehmen. Sie war noch nie untersucht worden."


Andere Helfer brachten die Hebamme zu einer Schwangeren, die abtreiben wollte und nicht wusste, an wen sie sich wenden sollte. „Da habe ich gedacht, allein kann ich nicht viel ausrichten." Duthe beschloss, GSF zu kontaktieren. Sie klapperte die Camps ab und befragte die Helfer vor Ort, wie viele Frauen es in den Lagern gibt und was sie brauchen. „Die haben da erst gemerkt, dass es gar keine Hilfsangebote für Frauen gibt."


GSF-Vizepräsident Richard Matis schätzt, dass etwa zehn Prozent der Bewohner der Flüchtlingslager in Nordfrankreich Frauen sind. Sie leben im „Dschungel", in Norrent-Fontes oder anderen kleinen Lagern. Bis zum Frühjahr gab es auch in Grande-Synthe, einer Nachbarstadt von Calais, so eine illegale Zeltstadt. „Camp der Schande" wurde es genannt, sagt Matis. „Das Lager war ein einziges Schlammfeld." Schleuserbanden verriegelten die Dusch- und Toilettenkabinen mit Vorhängeschlössern und zwangen die Flüchtlinge, für die Nutzung zu bezahlen. Die Migranten flickten ihre Zelte notdürftig mit Pflastern. „Es kann nicht sein, dass es so etwas in Frankreich gibt", meint der Gynäkologe.


Arbeit mit Schwangeren braucht Vertrauen

Für ihn war klar, dass GSF mit dem Einsatz in den Flüchtlingslagern erstmals eine Hilfsmission im eigenen Land aufbauen musste. Er habe damals gedacht, die Organisation könne Auslandseinsätze wie den im Flüchtlingslager im jordanischen Zaatari „einfach kopieren". 300.000 Euro pro Jahr hat sie seinen Worten zufolge im Ausland vom Außenministerium bekommen. „Aber für unsere Mission hier bekommen wir absolut gar keine öffentlichen Gelder", beklagt Matis. Dabei habe er überall nachgefragt: EU, Innenministerium, Regionalregierung. Die Politik gehe davon aus, dass die Flüchtlinge wieder verschwänden, wenn man ungünstige Bedingungen schaffe, so Matis. „Das ist idiotisch. Die Menschen sind seit Jahren hier. Dass man sie im Schlamm leben lässt, hat daran bisher auch nichts geändert."


GSF schaffte es, ausreichend private Spenden zu sammeln. Im November begann der Hilfseinsatz, der ausschließlich durch ehrenamtliche Mitarbeiterinnen gestemmt wird. Mittlerweile behandelt die Organisation mehr als 400 Frauen pro Monat. Bis Februar waren es nur 50. „Das liegt daran, dass es sich bei den Frauen erst mal rumsprechen musste, dass es uns gibt. Dass sich Vertrauen aufbaut", so Duthe. Den Winter verbrachten die Freiwilligen damit, durch die Zeltstädte zu wandern, Frauen anzusprechen, zu erklären, dass sie helfen können. „Die Frauen kommen nicht, wenn wir sie nicht aktiv suchen", berichtet die Helferin.

Gründe dafür gebe es viele: Die Migrantinnen sind misstrauisch gegenüber Menschen, die sie dazu bringen wollen, ihre Unterkunft oder das Lager zu verlassen, denn im Laufe ihrer Flucht wurden sie mitunter mehrfach von der Polizei abtransportiert. Viele Frauen haben Gewalt erlebt, einige wurden missbraucht, der Kontakt mit fremden Männern ist problematisch. Die Freiwilligen bei GSF sind fast alle Frauen. 70 Prozent arbeiten als Hebammen, 30 Prozent als Gynäkologinnen. Das erleichtert den Kontakt.


Duthe ist Koordinatorin des Hilfseinsatzes und arbeitet an zwei Tagen in der Woche als Freiwillige im neuen Lager von Grande-Synthe. Die Stadt hat es zusammen mit der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen" errichtet, weil die Zustände im alten Lager, im „Camp der Schande", unhaltbar wurden. Seit ein paar Monaten übernimmt die Regierung die laufende Finanzierung. „Mittlerweile erkennen uns die Frauen wieder, sprechen uns an und fragen nach uns", sagt Duthe. Trotzdem müssen sie und ihre Kolleginnen immer wieder über das Lagergelände laufen, an den Türen der Unterkünfte klopfen und nach ihren Patientinnen fragen. Manchmal kommt es vor, dass sie Frauen, die sie zum Beispiel wegen einer Schwangerschaft behandeln, wochenlang nicht sehen.


Das Ziel: Die gleiche Behandlungen wie für französische Frauen

Die Gründe können die Hebammen nur ahnen: Die Frauen kommen nicht in die Sprechstunde, weil sie mit der Kinderbetreuung beschäftigt sind. Sie schlafen tagsüber, weil sie nachts versuchen, einen Lastwagen nach Großbritannien zu erwischen. Sie können nicht unabhängig von ihrem Mann entscheiden. Umso größer ist die Freude bei den Freiwilligen, wenn sie auf Patientinnen treffen, die sie lange nicht gesehen haben. Sie bleiben hartnäckig, erklärt Duthe, denn: „Wir wollen, dass die Migrantinnen die gleiche Behandlung bekommen wie französische Frauen auch." Dazu gehören regelmäßige Blutabnahmen im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge oder Impfungen für Neugeborene, wie bei dem Kind der Afghanin im Wohnwagenpark im „Dschungel". Für Bedürftige sind diese Standardbehandlungen im Krankenhaus kostenlos. GSF sorgt dafür, dass die Migrantinnen diese auch in Anspruch nehmen können. Duthe: „Wir erinnern den Staat an seine Verantwortung."


Dass sich alle Flüchtlinge nach der Räumung des Lagers wie von der Regierung vorgesehen in Auffanglager in ganz Frankreich bringen lassen, bezweifeln Matis und Duthe. „Wahrscheinlich werden sie wiederkommen", sagt Duthe. „Wir haben absolut keine Ahnung, was passieren wird", sagt Matis. „Wir passen uns an."

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