Abgeschottet, vergessen, ignoriert: psychisch kranke und suchtkranke Menschen, die straffällig geworden sind, werden in forensischen Kliniken untergebracht. In neun Bundesländern sind die Kliniken überfüllt. Patient:innen leiden, Pflegekräfte werden angegriffen.
Von Carolin Haentjes und Antonia Märzhäuser / Mitarbeit: Juliane Löffler
„Vielleicht springe ich einfach selbst vom Hochhaus. Das wäre für alle das Leichteste", sagt Thomas. Nach dem Telefonat mit uns muss er zurück auf seine Station, zu den anderen psychisch kranken Menschen, die Straftaten begangen haben. Thomas heißt eigentlich anders, doch er möchte nicht, dass sein Name öffentlich wird. Er hat Angst, für immer eingesperrt zu bleiben, wenn er sich über die Zustände in seiner Klinik beschwert. Darüber, dass es ihm so schlecht geht wie schon lange nicht mehr. Dass er kaum noch schlafen kann auf seiner Station, weil es so laut ist, so überfüllt - und so gefährlich.
Vor mehr als einem Jahrzehnt hat Thomas eine schwere Straftat begangen. Seitdem sitzt er im sogenannten „Krankenhaus des Maßregelvollzugs", einem Backsteingebäude in Berlin-Reinickendorf hinter einem fünf Meter hohen Sicherheitszaun aus unzerstörbarem Polycarbon. Thomas gilt Gutachtern zufolge als so gefährlich und krank, dass die Gesellschaft vor ihm geschützt werden muss. Doch wer schützt Thomas? Und was wiegt mehr: Das Sicherheitsbedürfnis der Mehrheit - oder das Recht auf Freiheit des Einzelnen?
Meist geben Gutachten von Psychiater:innen vor Gericht den Ausschlag dafür, welche Menschen, die eine Straftat verübt haben, in einer der 78 Maßregelvollzugskliniken in Deutschland untergebracht werden. Weil diese Menschen aufgrund psychischer Erkrankungen oder Drogensucht als nicht oder nur teilweise schuldfähig gelten. Und weil sie es wieder tun könnten. So steht es im Strafgesetzbuch.
Hinter den Mauern kommt es häufig zu AngriffenMehr als 13.000 Menschen in Deutschland sind nach Recherchen von BuzzFeed News Deutschland aktuell im sogenannten Maßregelvollzug untergebracht - mehr als jemals zuvor. Das zeigt erstmals, dass die Zahl der Untergebrachten noch deutlich höher liegt, als von Expert:innen bislang mit 12.000 geschätzt. Es ist eine abgeschottete Welt, von der kaum etwas nach außen dringt und die man deshalb leicht ignorieren kann. Die Bundesländer erheben keine einheitlichen, geschweige denn vollständigen Daten dazu, wie viele Menschen in psychiatrischen Kliniken und Entzugseinrichtungen sind oder wie lange diese Menschen eingesperrt werden. Es gibt keine offizielle Bundesstatistik dazu.
Wenn aber Informationen öffentlich werden, sind es Schreckensnachrichten:
Dass es hinter den Zäunen und Mauern immer häufiger zu Angriffen kommt.
Dass die Kliniken schon lange völlig überfüllt sind und vor dem Kollaps stehen.
Dass nicht ausreichend Personal zur Verfügung steht, um die Patient:innen angemessen betreuen zu können.
Dass Patient:innen versuchen, Suizid zu begehen oder das Pflegepersonal angreifen, schlagen, niederstechen.
BuzzFeed News hat über Monate hinweg recherchiert, wie schlecht es um Patient:innen in Maßregelvollzugskliniken steht. Wir haben mit mehreren Untergebrachten und Fachpersonal gesprochen, mit Expert:innen, Anwält:innen, Personen aus der Politik. Und wir haben neue Zahlen vorliegen, die zeigen: Die Zustände werden immer schwieriger. In neun Bundesländern sind die Kliniken überfüllt, in zwei weiteren ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Das geht aus unseren Anfragen an alle Bundesländer hervor. Ärzt:innen und Therapeut:innen berichten, dass Behandlungen häufig ausfallen und von nicht ausreichend qualifiziertem Personal durchgeführt werden. Patient:innen werden in Isolierzimmer einquartiert, die eigentlich für Notfälle frei bleiben sollten. Zusätzliche Betten werden in volle Zimmer geschoben. Häufig kommt es zu Gewalt und Zwangsmaßnahmen, weil die Zahl der Patient:innen steigt und das Personal nicht mehr ausreicht. Ärzt:innen, Pfleger:innen und Therapeut:innen berichten, dass sie gefährliche Situationen nicht deeskalieren können - sie sind zu wenige und die Patient:innen zu viele.
Was alles schiefläuft, kann man in Berlin wie unter einem Brennglas beobachten. Hier führen Überbelegung und Unterbesetzung zu einer toxischen Mischung. In der größten forensischen Klinik Deutschlands komme es immer öfter zu Isolierungen und Fixierungen, weil das Personal überfordert sei, schildern uns mehrere Quellen. (...)
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Diese Recherche ist mit einem Stipendium des netzwerk recherche gefördert worden.
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