Eine Million Tonnen Altkleider bringen Bundesbürger jedes Jahr zu Containern und Sammelstellen. Doch ein großer Teil ihrer Hosen, Jacken und T-Shirts wird dann verbrannt oder geschreddert. Denn hinter der Altkleider-Industrie steckt gleich eine doppelte Lüge: Weder für die Umwelt noch für Bedürftige wird hier viel Gutes getan. Bis heute hat sich kein nachhaltiger Kreislauf etabliert. Nicht einmal ein Prozent wird zu neuer Kleidung recycelt.
Ein Beispiel: Bei dem Textilsortierbetrieb Soex im ostdeutschen Wolfen gehen jeden Tag 400 Tonnen gespendete Kleidung durch die Hände der Männer und Frauen an den Sortiertischen. 60 Prozent davon landen auf dem Secondhandmarkt, vor allem in Osteuropa und im Süden der Welt. Der Rest geht ins Feuer, wird zu Putzlumpen zerschnitten oder zu Dämmmaterial geschreddert. Einmal geschreddert, können die Ressourcen nicht mehr wiederverwertet werden - und werden nach einer Nutzung auch verbrannt.
Die Pandemie trieb das Problem auf die Spitze. Während mehr Menschen Kleider aussortierten, brachen die ausländischen Absatzmärkte für Secondhandkleidung weg. Die Leute von Soex sammelten bis zu 50 Prozent mehr Kleidung, als sie bewältigen konnten. Neue Lager mussten her.
Für Alttextilien gibt es eben bis heute kein gesetzlich geregeltes Sammel- und Recyclingsystem so wie bei Papier und Altglas. Sammler arbeiten ohne Vorschriften auf einem Markt, der nur von dem lebt, was sich global als Secondhandware verkaufen lässt. Dieser Anteil sinkt jedoch stetig, weil die wachsende Fast-Fashion-Industrie eine eher geringe Qualität liefert.
"Recycling rechnet sich derzeit nicht", sagt der Soex-Chef Walter Thomsen über die Verarbeitung der Alttextilien zu neuen Fasern. Um diesen Kreislauf profitabel zu machen, müsse man die Hersteller verpflichten, die recycelten Fasern auch zu verarbeiten. Dann müssten seine Leute mehr Kleidung nach ihrer Materialmischung sortieren, damit sie wiederverwendet werden kann. Doch sie wissen schlichtweg nicht genau, woraus die Kleidungsstücke bestehen. "Wir haben viele tolle Kollegen, die einzelne Materialien erfühlen können. Aber eben nicht zu 100 Prozent." Oft sind die Etiketten ausgewaschen oder abgeschnitten und ungenau dazu. Erst ab einem Anteil von fünf Prozent müssen die Stoffe genannt werden, und Angaben über Chemikalien fehlen. Doch danach richtet sich das erforderliche Recyclingverfahren. Nur wenn es gelingt, alles zu bestimmen, können sie wieder zu Garn verarbeitet werden.
Die LösungEine Möglichkeit, die Materialien aufzuschlüsseln, ist eine Infrarot-Sortierstation. Sie erkennt die Faserzusammensetzung der Kleidung - ähnlich wie bei PET-Flaschen. Eine solche Maschine hat Walter Thomsen für sein Werk in Wolfen angeschafft. Er spricht von einer Revolution.
Die optimale Lösung bietet die Maschine allerdings auch nicht. So sieht sie nicht, welche Chemikalien im Textil vorhanden sind, und erkennt nur Fasern, die mindestens zehn Prozent ausmachen. Das reicht nicht für die Kreislaufwirtschaft.
Eine Technologie, die das ändern könnte, kommt vom Kreuzberger Start-up Circular Fashion: ein kleiner Knopf, der alle Informationen speichert und als elektromagnetische Wellen aussendet - Materialien und ihre Anteile, Chemikalien, Produktionsbedingungen und Empfehlungen fürs . "Die Kreislaufwirtschaft mit dem Zirkulieren der Stoffe ist die einzig dauerhaft nachhaltige Lösung", sagt die Mitgründerin Ina Budde. Was der Altkleider-Industrie bisher fehlt, sind demnach vor allem Transparenz, Vernetzung und Datenflüsse. Der Chip funktioniert als eine Art Textilausweis: die Circularity.ID.
Die Sortierer in den Altkleiderstationen brauchen dann nur einen Scanner unter ihren Arbeitstischen, über den sie den kleinen Knopf ziehen, der in einem T-Shirt oder einer Hose an das Pflegeetikett angenäht ist. Schon erscheinen auf einem Bildschirm alle Informationen, die sie zur Verwertung brauchen - und eine Empfehlung, zu welchen Recyclern im Netzwerk von Herstellern, Designern und Sortierfirmen die Kleidung gebracht werden kann.
Auch Kunden und Kundinnen können den Chip nutzen: Sie sehen auf ihren Handys, wie das Kleidungsstück zu pflegen ist - aber natürlich nur dann, wenn die Hersteller auch die Produktdatenbank ausgefüllt haben, auf die der Chip verlinkt.
Die Erfinderin Ina Budde und ihr Team arbeiten inzwischen nicht nur mit kleinen nachhaltigen Modemarken, sondern auch mit der Otto Group oder Zalando. Der Online-Versandhändler hat im vergangenen Jahr eine gesamte Kollektion mit den Informationen ausgestattet - weil, wie Zalando erklärt, die Kunden mehr Transparenz verlangten. Und Buddes Firma ist nicht allein im Markt. Auch Eon aus den USA bietet einen Chip an und arbeitet unter anderem mit H&M zusammen.
Der WegWie viele der intelligenten Chips bald in Textilien stecken, hängt von den Herstellern ab. Sie müssen ihre Produktion offenlegen samt Chemikalien oder fragwürdiger Herstellungsart. Dass die große Mehrheit der Branche freiwillig mitzieht, bezweifelt nicht nur Walter Thomsen. Also muss die Politik handeln. Die EU solle regeln, dass neue Kleidung 15 Prozent recycelte Fasern enthalten muss und sämtliche Inhaltsstoffe ausweist, sagt der Mann von Soex.
Politischen Handlungsdruck sieht auch Christine Henseling vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Im Rahmen des Brüsseler Green Deals soll es ab 2025 verpflichtend sein, Altkleidung getrennt vom Restmüll zu sammeln. Das sei nur sinnvoll, wenn auch der Kreislauf in der Mode sichergestellt werde. "Dafür brauchen wir eine neue Infrastruktur", sagt Henseling. Die Idee hinter der Circularity.ID hätte da großes Potenzial. Allerdings nur, wenn die Politik der Industrie auch zeitnah vorschreibe mitzuziehen. Der Weg der Innovation führt in dem Fall eben nur über den Gesetzgeber.
Erst dann würde sich auch für Soex der Einsatz richtig lohnen. Die Firma hat die Sortiersoftware bereits getestet. Fest installieren will man sie aber noch nicht. Bis Kleidungsstücke, die jetzt mit dem Chip ausgestattet werden, bei ihr ankommen, wird es eine Weile dauern.