Als Bahrije Aygar an diesem Morgen den sterilen Flur des dritten Stocks von Haus K betritt, erwartet sie ein Vormittag im Krieg. Sie betritt den hellen Therapieraum, setzt sich, und schon geht es los: Die Bomben fallen um sie herum, es wird geschossen, geschlagen, geschrien. Bahrije Aygar ist hautnah dabei, als die furchtbaren Szenen zum Leben erweckt werden, die im Kopf ihres Patienten eingesperrt waren. Ein Albaner aus dem Kosovo, der zuerst den Krieg in seiner Heimat und dann den in Afghanistan miterlebte. Die Bilder der Zerstörung hatte er noch kaum verarbeitet, als er als Angestellter einer Firma Anfang der 2000er Jahre nach Afghanistan ging. Als es auch dort losging, mit der Gewalt, mit dem Krach, kam alles wieder hoch und ließ ihn nicht mehr los, wie er es jetzt Aygar erzählt.
Bahrije Aygar ist Dolmetscherin am Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) in Berlin. Täglich hört und übersetzt sie dort die Geschichten von schwer traumatisierten Flüchtlingen in der Psychotherapie aus dem Bosnischen, Albanischen, Serbischen und Kroatischen. Unter ihren Patienten sind Kriegs-, Folter-, und Vergewaltigungsopfer, die aus ihrem Heimatland geflohen sind. Sie wollen vergessen und können doch nicht verdrängen, was ihnen zugestoßen ist. Bahrije Aygar ist für sie da und weiß: "Die sind zu 100 Prozent auf mich angewiesen." Lachend erinnert sie sich, wie sie sogar an dem Tag, an dem ihre Tochter zur Welt kam, noch als Dolmetscherin für eine Traumapatientin aus Srebrenica im Einsatz war. Aygar war die einzige, der sich die Frau anvertrauen konnte. "Ich könnte nie einen meiner Patienten im Stich lassen", sagt sie.
Nach der Sitzung mit dem Albaner geht sie ein paar Türen weiter in den Gruppentherapieraum, wo Traumapatienten aus verschiedenen Ländern zusammenkommen - Männer und Frauen aus Syrien, dem Irak, aus den Balkanländern. Jeder erzählt, was ihn bewegt, die Dolmetscher übersetzen. Manchmal werden die Therapiestunden auch von Notfällen unterbrochen: Einmal versuchte ein Patient, sich im Wartebereich die Pulsadern aufzuschneiden. Ein anderer schlug seinen Kopf immer wieder gegen die Wand, zusammen mussten sie ihn festhalten und ihm eine Beruhigungspille in den Mund stecken. Psychologen sind für solche Situationen geschult. Dolmetscher meist nicht.
Auch Aygar hat solche Erfahrungen gemacht. Einmal verfolgte sie die Geschichte einer Albanerin, die vergewaltigt wurde, bis in den Schlaf. "Ich konnte nicht mehr schlafen oder träumte davon", erinnert sie sich. Ein anderes Mal übersetzte sie für eine Frau im psychiatrischen Notdienst. Als sie den Raum verließ, wurde ihr schwindlig, sie musste sich setzen. "Man hat das nicht unter Kontrolle", sagt sie. "Manchmal schafft man es, Distanz zu wahren, ein anderes Mal geht es direkt unter die Haut. Ich musste auch schon oft mitweinen."
Doch nicht nur zu große Nähe, auch zu große Distanz kann ein Problem sein. Letztens musste Aygar, die selbst Albanerin ist und 1993 vor der verschärften Situation in ihrer Heimatstadt Prishtina (Kosovo) nach Deutschland floh, für eine Serbin übersetzen. Sie fragte sich: Kann ich da eigentlich eine Nähe herstellen? Den damaligen Konflikt in meinem Heimatland vor der Tür lassen? Aygar erinnert sich noch gut an die Angst in ihrem Land, die Angst vor den Serben, vor der Gewalt. Sie überwand sich. "Die Geschichte der Frau war so schrecklich", sagt sie. "Da konnte ich gar nicht anders, als sie einfach als Mensch zu betrachten."
Einen Patienten abgegeben hat sie noch nie. Sie weiß, dass die Patienten meist die Therapie ganz abbrechen, wenn der Dolmetscher wechselt. "An die Dolmetscher denkt zwar nie jemand", sagt sie, "aber sie sind existenziell wichtig." Sie übersetzen nicht nur, sondern ordnen auch Gefühle und Gedanken in den kulturellen Kontext ein. Oft sind sie auch ein Stück Heimat in der ungewissen Fremde. Da die meisten Dolmetscher, wie Aygar, selbst einen Migrationshintergrund haben, verstehen sie die Situationen besser, die die Flüchtlinge aus ihren Heimatländern beschreiben. Genau darin besteht allerdings auch die Gefahr der zu großen emotionalen Nähe und Verbundenheit.
Wenn Aygar merkt, dass sie eine Geschichte zu sehr mit sich herumträgt, ruft sie zuerst ihre Schwester an. Die dolmetscht ebenfalls am Behandlungszentrum. "Bei ihr kann ich mich aussprechen." Die Mitarbeiter unterstützen sich so gut es geht, denn nach außen hin herrscht Schweigepflicht. Regelmäßig geht Aygar auch zur Supervision, einem wöchentlichen Angebot für die Therapeuten und Dolmetscher des bzfo. Dort kann sie mit externen Fachleuten über die Fälle sprechen, die sie besonders beschäftigen. Maßnahmen für die "Psychohygiene", so heißt es im Psychologenjargon, wenn man etwas dafür tut, damit das eigene seelische Gleichgewicht erhalten bleibt.
Bahrije Aygar hat eine gute Psychohygiene. Sie mag dieses Gefühl, gebraucht zu werden. Früher hatte sie einen Job bei der Ausländerbehörde. "Dieses kalte Entscheiden nach Akten, das war einfach nichts für mich. Ich muss nah an den Menschen dran sein." Deshalb wird sie auch am nächsten Tag wieder im hellen Behandlungszimmer in Haus K sitzen und zuhören, wenn die Bomben fallen.