Wie übersteht man ein großes Finale?
Am Sonntag entscheidet ein Ball über Schmach oder Triumph, Siegeszug durch Paris oder Lissabon. Aber wie bereitet man eine Gruppe junger Männer darauf vor, die Hoffnung von Millionen Landsleuten zu schultern?
imagoVincent Rödel ist Diplom Sportwissenschaftler und sportpsychologischer Experte. Als solcher lehrt er an der Humboldt Universität Berlin und Ausbildungsstellen des DFB. Außerdem betreut er u.a. Spieler des FC Energie Cottbus sportpsychologisch. Vincent Rödel, glauben Sie, dass die Deutsche Nationalmannschaft Europameister geworden wäre, wenn Bob Dylan sie psychologisch betreut hätte? Wegen des Zitates auf meiner Webseite? Ja, "Erfolg bedeutet morgens aufzustehen und abends ins Bett zu gehen. Und dazwischen nur das zu tun, was man will!" Abgesehen davon weiß ich leider ziemlich wenig über Bob Dylan. Aber ich glaube, darum ging es im Halbfinale gegen Frankreich gar nicht. Ich glaube, die Deutschen waren gut vorbereitet und eingestellt. Sie haben eben nur nicht das Tor getroffen. Der deutsche Zuschauer neigt in so einem Fall ja traditionell dazu, die Charakterstärke der Spieler in Frage zu stellen. Ich habe bei der Nationalmannschaft während der EM immer das Gefühl gehabt, dass sie charakterlich starke Spieler hat. Über wen ich aber nachgedacht habe, war Müller, der einfach nicht mehr in der Form von 2014 war. Ich hatte das Gefühl, dass er nach der langen Saison mental einfach nicht mehr frisch war. Es war ja auch ständig die Rede davon, dass er bei einer EM noch nie ein Tor geschossen hat. Das hat sicher mitbekommen. Das war das erste Turnier, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er mal eine Auszeit braucht. Bob Dylan hat also doch recht. Jeder muss mal durchatmen. Ich glaube sogar, dass die Nationalspieler - bei aller Traurigkeit über das Ausscheiden - ganz froh sind, jetzt auch mal in den Urlaub fahren zu können. Viele Filmkritiker können keinen Film mehr richtig genießen kann, ohne ihn zu sezieren. Neigen Sie dazu, beim Fußball gucken fernzupsychoanalysieren? Nur, wenn ich Spiele der Mannschaften schaue, die ich betreue. Wenn ich privat Spiele der deutschen Nationalmannschaft schaue, bin ich in erster Linie Fan. Aber man kann durch Videos und Spielaufzeichnungen schon Rückschlüsse auf den mentalen Zustand eines Spielers schließen. Wie tritt er auf? Wie ist seine Körpersprache? Wie ist sein Umschaltverhalten? Wie ist die Aggressivität der Spieler in unterschiedlichen Spielphasen? Ich notiere solche Dinge in einem Beobachtungsbogen und analysiere sie später gemeinsam mit einzelnen Spielern. Anschließend suche ich mit ihnen gegebenenfalls nach künftigen Lösungswegen. Was genau sind ihre Aufgaben, wenn Sie eine Mannschaft bei einem Turnier betreuen? Das ist ganz unterschiedlich. Nur der Kollege, der zu einem Turnier mitfährt, kann das letztlich beantworten. In erster Linie ist man aber Ansprechpartner für Trainer, Spieler und alle andern Teammitglieder. Es ist wichtig, Optimismus auszustrahlen und als Ruhepol zu dienen. Trainings und Gruppenworkshops finden in der Regel vorher statt, in der Vorbereitung. Es gibt sowieso keine Wundermittel, die bei jedem gleichermaßen anschlagen. Die Initiative, an sich arbeiten zu wollen, muss vom Spieler kommen. Wir können aber immer wieder Angebote für die Spieler schaffen. Dann arbeiten Sie mehr mit einzelnen Spielern, als mit dem Kollektiv? Es gibt einen Unterschied zwischen sportpsychologischem Training und Coaching. Coachings finden in der Regel mit Trainern und Spielern in Einzelgesprächen statt. Bei Trainings kann auch die ganze Mannschaft beteiligt sein, als Teil einer Trainingseinheit oder zum Beispiel im Workshopformat, bei denen bestimmte Themen wie Konzentration, die individuelle Wettkampfvorbereitung oder auch Umgang mit Druck behandelt werden.
VERÖFFENTLICHT: 10.07.2016
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