Rund drei Wochen, nachdem Dmitri Woldnew eingezogen wurde, hielt sein Vorgesetzter ihm eine Waffe an den Kopf. Der Vorgesetzte, Alexander Lapin, ist zu diesem Zeitpunkt ein erfahrener Militärgeneral, Woldnew ein Soundtechniker aus Moskau. Er wurde am 23. September, wenige Tage nach Verkündung der Teilmobilisierung, an die Front im Donbass geschickt.
In der „benachbarten" Kompanie, der 1. Kompanie des 1. Batallions, dient zu diesem Zeitpunkt Nikita Pawlow, 23, aus Moskau. Auch er fand sich im Zuge der Teilmobilisierung an der Front wieder und bald auch in der Einheit von Dmitri Woldnew. Er beobachtete, wie Lapin Woldnew bedroht haben soll.
Wie es dazu kam, dass sich die drei Männer in dieser Situation wiederfanden, hat das russischsprachige Onlinemagazin Mediazona recherchiert. Die Geschichte deckt sich mit den Erlebnissen von Rekruten in anderen Teilen des Donbass, über die der „Guardian" jetzt berichtet. Was die Erzählungen der interviewten russischen Männer gemein haben: Sie alle waren unzureichend ausgebildet, schlecht ausgerüstet, unzureichend geführt - und auf die Hölle, die sie an der Front erlebten, nicht vorbereitet.
Hier erzählen wir die Erlebnisse von vier Männern, die sie „Mediazona" und dem „Guardian" berichtet haben, ergänzt durch Berichte über ihre Einheiten in anderen Medien und den sozialen Netzwerken. .
Die Odyssee von Dmitri Woldnew und Nikita PawlowWoldnews Vater erzählt, er sei bereitwillig in den Krieg gezogen. Vier Tage später wird sein Sohn zum Kommandeur der 5. Kompanie des 1. Bataillons des 423. Motorisierten Gewehrregiments ernannt, berichtet Woldnew Senior. Sein Sohn hat keine Militärerfahrung - ein Jahr lang soll er aber als Agent für den Inlandsgeheimdienst FSB tätig gewesen sein.
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Anfang Oktober wurde das Regiment von Woldnew und Pawlow in die Stadt Swatowe in Luhansk nahe der Front verlegt, wie Pawlow erzählt. Die ukrainischen Truppen sind bis auf wenige Kilometer an Swatowe herangrückt, die Stadt gilt als strategisch wichtig. Brechen Kiews Truppen hier durch, könnten sie weite Teile von Luhansk erobern.
Wir waren 300 Meter von der feindlichen Stellung entfernt.
Nikita Pawlow, 23, aus MoskauAm 9. Oktober sollen sich die Soldaten an der Frontlinie, „wo es am heißesten war", in der Nähe des Dorfes Kolomiychikha befunden haben. Sie kamen dort in Hangars unter - wo sie auf Befehle warteten. Doch die kamen nie, weil vor Ort nach dem Abzug der anderen Kompanie der Kommandeur fehlte.
„Wir saßen also in diesen Hangars, in denen die ganze Zeit Granaten flogen. Wir saßen nur da und warteten auf den Befehl, irgendwohin zu gehen und etwas zu tun", erzählte Pawlow „Mediazona".
Bald darauf sollen in demselben Hangar mobilisierte Männer der 5. - von Wodnew kommandierten - und 6. Kompanie hinzugestoßen sein, die laut Pawlow zuvor „zum Ausheben von Schützengräben" geschickt worden waren.
© Foto: Imago/Russian President Press Office„Wir waren buchstäblich 300 Meter von der feindlichen Stellung entfernt. Das Abfeuern von Handfeuerwaffen war aber verboten. Denn damit würden wir unsere Position verraten. Aus irgendeinem Grund hat niemand die Tatsache in Betracht gezogen, dass sie, wenn sie schon auf uns schießen, schon unsere Position kennen", zitiert „Mediazona" Nikita Pawlow.
Der Beschuss dauerte mindestens drei Tage, erinnert sich Pawlow. Am 11. Oktober, so der mobilisierte Moskauer, gab es nach zwei Stunden Beschuss „mehr als vier Tote und drei Verletzte", und am nächsten Tag „mehr als sechs Tote und mehr als drei Verletzte".
Wenn Ihr leben wollt, dann geht die Straße hoch.
Ein russischer Unteroffizier zu den RekruteneinheitenDer Hangar wurde durch Beschuss zerstört, und die 5. und 6. Kompanie suchten Zuflucht in den Kellerräumen einer Dorfschule, erzählt Pawlow. Dies sollte Kommandeur Wodnew später zum Verhängnis werden.
Diese Schilderung deckt sich mit Berichten des 15. Schützenregiments, das ebenfalls bei Kolomiytschicha stationiert war. Soldaten schildern in einem Video, über das ebenfalls „Mediazona" berichtete, dass die 5. und 6. Kompanie des 423. Regiments den Auftrag eines Majors erhalten hätten, sich in einem Hangar zu verschanzen.
Am folgenden Tag, so erzählt Pawlow, soll ein Vertragsunteroffizier in den Hangar „gestürmt" sein, und ihnen zum Rückzug Richtung Swatowe geraten haben. „Er hat es nicht befohlen. Aber er hat ausdrücklich gesagt: ‚Wenn Ihr leben wollt, dann geht die Straße hoch, dort stehen Kamazs (Truppentransporter, Anm. d. Red.) und Panzer.'" Danach sei Pawlows Batallionszug ausgerückt - und soll zu Fuß nach Swatowe gelaufen sein, da die versprochenen Panzer (bis auf einen) bereits auf dem Weg gewesen sein sollen.
Spät in der Nacht, erzählt Pawlow weiter, erreichten die Soldaten einen Kontrollpunkt am Eingang von Swatowe, wo ihnen der Weg von „Freiwilligen" versperrt worden sei. Die Soldaten mussten die Nacht an einer nahe gelegenen Tankstelle verbringen, „direkt auf dem Bürgersteig, was viele von ihnen krank machte", da die Mobilisierten keine Medikamente dabei hatten, erzählt Pawlow „Mediazona". Auch am nächsten Morgen wurden sie nicht nach Swatowe gelassen.
Dann holten sie Wodnew wieder herbei, um uns davon zu überzeugen, wieder an die Front zu gehen.
Nikita PawlowLeutnant Dmitri Wodnew, der Kommandeur der 5. Kompanie, soll dann auf die Suche nach anderen Kommandeuren gegangen sein, fand aber nur Militärpolizisten - und erzählte ihnen von dem Rückzug. Danach, so Pawlow, sei der Kommandeur des Zentralen Militärbezirks, ebenjener Generaloberst Aleksandr Lapin, der für die Verteidigung in der Nähe von Swatowe zuständig gewesen sein soll, an der Tankstelle eingetroffen.
„Die Militärpolizei hatte offenbar bereits Generaloberst Lapin informiert", erinnert sich Pavlov gegenüber Mediazona. „Er kam an und hielt Wodnew eine Waffe an den Kopf."
Wahrscheinlich wurde er auch geschlagen, vermutet Pawlow. „Dann holten sie Wodnew wieder herbei, um uns davon zu überzeugen, wieder an die Front zu gehen, aber er sagte: ‚Leute, das kann ich nicht tun.'", schildert Pawlow.
© Foto: IMAGO/Yegor AleyevAlso standen die Soldaten noch immer an der Tankstelle vor dem Kontrollpunkt in Swatowe, warteten auf Befehle. Daraufhin begann ein weiterer Kommandeur vor Ort, die Soldaten zu beschimpfen, beschreibt Pawlow: „Deserteure", „Verräter am Vaterland" soll er sie genannt haben. Auch Essen, Trinken und einen Schlafplatz soll er ihnen verweigert haben.
Mittlerweile haben die mobilisierten Soldaten ihre Angehörigen kontaktiert. Pawlow glaubt, dass die Öffentlichkeit, die dieser Fall bekommen hat, der Grund dafür sei, dass die Männer zurück nach Russland, nach Belgorod in ein Militärlager geschickt worden seien.
Wodnew soll eine Weigerung verfasst haben, weiterhin am Krieg in der Ukraine teilzunehmen - er soll sich nun in Haft befinden. Aber auch Alexander Lapin musste seinen Posten räumen. Nicht zuletzt, weil Tschetschenen-Führer Ramzan Kadyrow ihn nach dem Vorfall heftig attackierte.
Was die Rekruten Agafonov und Nikolai Woronin an der Front erlebtenDiese Einschätzungen bekräftigen Berichte von Wehrpflichtigen, die schwere Beschüsse überlebt haben. Dem „Guardian" erzählt ein Überlebender namens Agafonov, dass ihm bei der Ankunft seiner Einheit am 1. November nahe der ukrainischen Stadt Makijiwka Schaufeln ausgehändigt wurden, um die ganze Nacht über Gräben auszuheben. Während der Grabungsarbeiten seien sie von ukrainischer Artillerie überrascht worden.
Der größte Teil unserer Einheit ist weg, zerstört. Es war die Hölle.
Agafonov, russischer Rekrut„Ich habe gesehen, wie die Männer vor meinen Augen auseinandergerissen wurden, der größte Teil unserer Einheit ist weg, zerstört. Es war die Hölle", berichtet Agafonov dem „Guardian". Die Kommandeure seiner Einheit hätten diese kurz vor Beginn des Beschusses im Stich gelassen.
© Foto: picture alliance/Citypress24Nach Angaben des Auslandskorrespondenten des „Guardian", Luke Harding, wurde Agafonov am 16. Oktober zusammen mit 570 anderen Wehrpflichtigen in der russischen Stadt Woronesch, im Südwesten des Landes, einberufen.
Nach dem Artilleriebeschuss zog sich Agafonov gemeinsam mit anderen Überlebenden in eine russische Stadt unweit des Angriffsortes nahe Makijiwka zurück. Keiner von ihnen wolle mehr zurück, wie er dem „Guardian" sagte. „Viele, die überlebt haben, verlieren nach den Ereignissen den Verstand."
Laut Agafonov überlebten nur 130 der 570 Wehrpflichtigen die Beschüsse in Makijiwka, was ihn zum bekanntesten tödlichen Zwischenfall mit Wehrpflichtigen seit Beginn der Mobilisierungskampagne Ende September mache, berichtet der „Guardian".
Ein anderer russischer Soldat, der bei schweren Angriffen ebenfalls knapp mit dem Leben davonkam, berichtet dem „Guardian" von überforderten Einheiten. „Wir waren völlig ungeschützt, wir wussten nicht, was wir tun sollten. Hunderte von uns starben." Die militärische Ausbildung sei ungenügend: „Zwei Wochen Ausbildung bereiten einen nicht auf so etwas vor".
Sie lagen überall. Ihre Arme und Beine waren abgerissen.
Nikolai Woronin, russischer RekrutAuch ein dritter Soldat, Nikolai Woronin, berichtet gegenüber der unabhängigen russischen Nachrichtenagentur Verstka von vielen Toten: „Sie lagen überall. Ihre Arme und Beine waren abgerissen". Die Schaufeln für Grabungsarbeiten, hätten sie dann benutzt, um die Toten ihrer Einheiten auszugraben.
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Putin hatte Ende Oktober gesagt, Russland plane vorerst keine weitere Mobilmachung von Reservisten über die bislang verkündete Teilmobilmachung hinaus. In der „vorhersehbaren Zukunft" sehe er keine Notwendigkeit, weitere Reservisten einzuziehen. Bisher seien 222.000 Reservisten zu den Waffen gerufen worden, in rund zwei Wochen werde die geplante Zahl von 300.000 erreicht sein. Von den Einberufenen seien 16.000 bereits „in kämpfenden Einheiten", gab er bekannt. ( mit dpa, AFP)
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