Alle schimpfen über Panama, dabei liegen einige der Steueroasen mitten in Europa. Zu den beliebtesten gehört die Kanalinsel Jersey. Doch nicht alle Einwohner können das Leben im Offshore-Paradies genießen.
Kaum 30 Sekunden dauert es, da hat der alte Mercedes-Benz den Besitzer gewechselt. "Verkauft für 1200 Pfund", rattert der Auktionator herunter, klopft mit seinem Stift auf die Schreibunterlage in seiner Hand und steigt vom Tritt. Er bahnt sich seinen Weg durch die kleine Menschenmenge, die ihn die paar Meter zum nächsten Fahrzeug begleitet. Jemand lässt den Motor des Fords aufheulen, der Auktionator klettert wieder auf den Tritt und wartet, wer als nächster die Hand hebt.
In der Hoffnung auf ein Schnäppchen sind Dutzende auf das Feld des Auktionsgeländes in Jersey gekommen. Neben einem Multimillionär, der mit der Vermarktung von Grundstücken reich geworden ist, stehen Gastarbeiter aus Portugal und Polen und machen sich eifrig Notizen. Die wöchentliche Auktion ist eine der wenigen Gelegenheiten in Jersey, bei der sich Arm und Reich in ihrer Freizeit begegnen. Treffen sie sonst aufeinander, sind die Rollen meist klar verteilt: Die Reichen geben das Geld aus, die anderen bieten dafür Service oder Dienstleistungen.
In Jersey dreht sich alles ums Geld. Das hat Louise Magrath gelernt, seitdem sie vor acht Jahren von London auf die Insel zog. Sie kam für die Liebe ins Steuerparadies, das nur 25 Kilometer vor der französischen Küste im Ärmelkanal liegt. "Wenn du hier zur Gruppe der Reichen gehörst, hast du in Jersey keine Sorgen", sagt sie. Aber Magrath gehört zur anderen Gruppe, zu den normalen Menschen, wie sie sie nennt. Seit der Geburt ihres Sohnes lebt die Familie vom Einkommen ihres Mannes. Die junge Frau vergleicht ihre neue Heimat oft mit ihrer alten. Selten kommt Jersey dabei besser weg.
Es sind diese Gegensätze, die in Jersey vielleicht noch offensichtlicher werden als auf dem Festland. Die Insel ist nur etwas größer als Sylt, doch mit knapp 100.000 Einwohnern leben hier mehr als sechs Mal so viele Menschen. Schon bei der Ankunft am Flughafen wird deutlich, welcher Branche viele Menschen auf der Insel ihren Reichtum zu verdanken haben - und wer hier willkommen ist: Neben Werbung für Vermögensverwaltung preisen Anwaltskanzleien ihre Dienste an, in der Eingangshalle kann der Besucher Luxusautos und Privatjets buchen.
Jersey lebt von der Offshore-Finanzindustrie, der Sektor macht 50 bis 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Ende 2014 waren laut Tax Justice Network 12.770 Menschen in diesem Sektor beschäftigt, fast ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung. Mindestens noch einmal so viele verdienen indirekt daran.
Bei fast 33.000 registrierten Firmen und "limited liability entities" kommt auf drei Einwohner Jerseys eine Firma. Hinzu kommen all die Trusts - die angelsächsische Variante der Stiftungen, in denen Reiche gern ihr Geld parken. Die genaue Zahl solcher Konstruktionen kennt in Jersey niemand, weil sie gar nicht erst registriert werden. Seit der Veröffentlichung der Panama Papers, einem Datenleck bei dem viertgrößten Anbieter für Offshore-Firmen weltweit, sind Steuerparadiese wie Jersey wieder in den Fokus gerückt.
Magrath und ihr Mann haben Jerseys Reichtum jeden Tag vor Augen: Aus den Fenstern der Sozialwohnungen blicken Bewohner wie sie auf die idyllischen Cottages der Besserverdienenden. Für ein kleines Haus verlangen Makler mindestens eine halbe Million Pfund. Das ist für viele unbezahlbar - trotz der auch außerhalb der Finanzbranche vergleichbar hohen Einkommen. Stattdessen sind Tausende Menschen auf finanzielle Unterstützung durch die Regierung angewiesen, einige Familien sogar auf Essensmarken.
"Auf Jersey herrscht ein Klima der Angst"
Jersey ist - abgesehen von den niedrigen Steuern - berühmt für seine Austern und Steaks vom Jersey-Rind. "Ich muss mir aber gut überlegen, ob ich meiner Familie Eiscreme kaufe oder das Geld für das Hühnchen zum Abendessen spare", erzählt Magrath.
Wegziehen will die 32-Jährige deshalb nicht - für kein Geld der Welt; sie liebt die Insel, die satten grünen Wiesen und Wälder und die Sandstrände. "Ich wünsche mir nur, dass unsere Sorgen gehört werden. Wir sollten gemeinsam gucken, wie das Leben für alle hier schön sein könnte." Dafür sollte auch die Regierung mehr tun, findet sie.
Es gibt nicht viele Menschen auf Jersey, die so offen wie die junge Mutter über Probleme im Steuerparadies reden - oder gar die Politik öffentlich in die Pflicht nehmen, erzählt Stuart Syvret. Er hat den Glauben an die Demokratie auf Jersey vor Jahren verloren. Fast zwei Jahrzehnte saß er als Abgeordneter, Senator und zeitweise Gesundheitsminister im Plenarsaal von Jersey - und verstand sich als Opposition.
Immer wieder prangerte er das Verhalten der Mächtigen an, warf Politik und Justiz vor, Straftaten zu vertuschen. Als er auf seinem Blog geheime Dokumente veröffentlichte, die seine Vorwürfe belegen sollten, wurde er angeklagt und rechtskräftig verurteilt. Seine politische Karriere war beendet. Seitdem nennt er sich politischer Aktivist. Manchmal fühle sich sein Kampf aber aussichtslos an, sagt Syvret.
Video: Stuart Syvret übt Kritik am System
Dass Jersey von der Finanzindustrie profitiert, bestreitet auf der Insel niemand. Auch nicht John Harris, der Direktor der Finanzaufsicht. Was ihn ärgert, ist das Image der Insel als Steuerparadies. "Das macht uns sehr unglücklich." Harris ist ein großer Mann, trägt einen schicken Anzug und weiß seinen Charme einzusetzen. "Wir verstehen uns als ein sehr gut reguliertes und kooperatives Finanzzentrum", sagt er und lächelt.
In der Tat: Es hat sich viel verändert in den vergangenen Jahrzehnten. In den Achtzigerjahren hatte die Insel den Ruf, egal wem dabei zu helfen, egal was zu umgehen. Jersey galt als Alternative zum Finanzplatz London - nur ohne Regeln und ohne Steuern. Ende der Neunziger rückte die Kanalinsel ins Visier der europäischen Steuerbehörden. Jersey reagierte auf den Druck von außen, besorgt um seinen Ruf richtete es 1998 eine unabhängige Finanzaufsicht ein, fing an, die Offshore-Geschäfte zu regulieren, und unterschrieb im Laufe der Jahre Abkommen zum Austausch von Informationen mit diversen Ländern. "Verstecken Sie kein Geld in Jersey, es ist ein schlechter Ort dafür", sagt Harris.
Enge Beziehung zu Mossack Fonseca
Doch das hält nur wenige ab, Geld auf der Kanalinsel anzulegen. Wie gefragt Jersey in der Offshore-Welt ist, zeigten auch die Panama Papers. Die Insel ist unter den zehn Steuerparadiesen, die die panamaische Anwaltskanzlei Mossack Fonseca am häufigsten für ihre Geschäfte nutzte. Auch in den Top Ten der Banken, die für ihre Kunden bei Mossack Fonseca anfragten, findet sich eine aus Jersey: Coutts.
Im Zentrum von Jerseys Hauptstadt St. Helier hat die britische Privatbank eine Dependance. Es ist ein großer Bau, mit schickem Eingangsbereich. Einige Hundert Meter weiter betreibt Mossack Fonseca ein kleines Büro. Nur eine silberne Tafel im Eingangsbereich des vergleichsweise hässlichen Bürogebäudes weist auf die Kanzlei hin, die zu den größten der Welt gehört.
Es ist unmöglich durch St. Helier zu gehen, ohne sich über die Vielzahl der Banken und Anwaltskanzleien zu wundern. Dabei sei das ganze Ausmaß von außen noch nicht einmal auf den ersten Blick erkennbar, sagt Geoffrey Southern und deutet auf den Eingangsbereich eines unscheinbaren Bürogebäudes. Dort sind die Namen der Firmen aufgelistet, die hier vertreten sind.
Southern sitzt als Abgeordneter im Parlament, der State Chamber von Jersey. Alle paar Wochen kommen die Politiker in einem altehrwürdigen Saal zu einer Sitzung zusammen. Am Eingang erinnert ein großes Gemälde die Volksvertreter daran, wem sie zur Loyalität verpflichtet sind: Queen Elizabeth II. Jersey gehört nicht zur EU oder Großbritannien, sondern allein der Krone - auf der Insel gibt es eine Selbstverwaltung. Die Queen ist es auch, die auf den Geldscheinen der Währung, dem Jersey-Pfund-Sterling, lächelt. Großbritannien kümmert sich um die Außen- und Verteidigungspolitik.
Jersey hat sein eigenes Steuersystem, bei manchen Gesetzen orientiert sich die Vogtei an Großbritannien oder der EU, bei anderen nicht - Vorgaben kann ihr aber niemand direkt machen. In der Sitzung der State Chamber am vergangenen Dienstag sei zwei Stunden lang über die Panama Papers diskutiert worden, erzählt Southern. Er habe die Regierung gefragt, ob im Zuge der Panama Papers Ermittlungen geplant seien, so wie in Großbritannien - nein, hieß es. Die Antwort befriedigt ihn nicht: "Der Ruf der Insel ist in Gefahr", sagt der Abgeordnete. Und darunter leide am Ende die normale Bevölkerung.
Es regt sich Widerstand im Steuerparadies
Die einfachen Menschen bekommen die klamme Haushaltskasse schon heute zu spüren - im vergangenen Jahr betrug das Defizit 145 Millionen Pfund. "Die Antwort der Regierung darauf sind Kürzungen in der Verwaltung, Entlassungen und höhere Steuern für die Arbeiterklasse", sagt Southern. Seit 2008 gibt es eine Mehrwertsteuer von mittlerweile fünf Prozent, die Straßen auf der Insel sind teilweise in schlechtem Zustand, die Schulen überfüllt, auf Arzttermine müssen Patienten manchmal wochenlang warten.
Aus Sicht des Politikers Southern sind es die normalen Bürger, die dafür bezahlen, dass Jersey Firmen und Ausländern weiterhin attraktive Steuersätze bieten kann. Nach und nach formiert sich dagegen Widerstand. Die Menschen seien der Regierung und Beziehung zur Finanzindustrie gegenüber schon kritischer eingestellt als noch vor ein paar Jahren, erzählt er.
Zur Wahl 2014 trat die neu gegründete Partei "Reform Jersey" an, ihre Mitglieder setzen sich unter anderem für mehr Steuergerechtigkeit und Transparenz ein - ein Novum für Jersey, dessen Abgeordnete bislang nur unabhängige Kandidaten waren. Und auch John Harris hat einen Wandel in der Gesellschaft bemerkt. Die Debatte um Steuerparadiese sei heutzutage sehr viel moralischer.
Ihre Unzufriedenheit treibt die Menschen auf Jersey dazu, sich ungewöhnlich offen gegen die Regierung zu wenden. Als im vergangenen Jahr Pläne für ein mehrere Millionen Pfund teures neues Finanzzentrum öffentlich wurden, gingen 3000 Einwohner dagegen auf die Straße. Für die kleine Insel der größte Protest seit Jahrzehnten.
Gebaut wird nun trotzdem: "Ein neues Zuhause für die Finanzindustrie der Insel", steht auf dem Bauzaun. Ob das die richtige Entscheidung war? In zwei Jahren wird wieder gewählt.
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