Seit zwei Jahrzehnten lebt und arbeitet Holger Schmieding in Großbritannien. Der Chefvolkswirt der Berenberg Bank bangt mehr denn je um die Zukunft Europas - und um die Stärke des Finanzplatzes London.
SPIEGEL ONLINE: Herr Schmieding, auf dem EU-Gipfel wollen die Regierungschefs den Ausstieg Großbritanniens aus der EU verhindern. Sie leben seit 19 Jahren in Großbritannien und verfolgen die Debatte dort intensiv. Was würde ein Brexit für Ihre Arbeit und Ihren Arbeitsplatz in der britischen Hauptstadt bedeuten?
Schmieding: Es ist erschreckend, dass sich die Stimmung gegen Europa in dieser Zeit eher verfestigt hat. Die Debatte wird von Themen wie der Flüchtlingsfrage dominiert. Eigentlich ist die wichtigere Frage doch, welche wirtschaftlichen Vorteile Großbritannien davon hat, dem größten gemeinsamen Markt der Welt anzugehören. Für mich persönlich würde sich durch einen Brexit vermutlich nicht viel ändern, drei bis vier Arbeitstage in der Woche bin ich ohnehin außerhalb des Landes unterwegs.
Holger Schmieding ist Chefvolkswirt bei der Berenberg Bank, Deutschlands ältester Privatbank. Zuvor hat er unter anderen am Kieler Institut für Weltwirtschaft, für den Internationalen Währungsfonds und die Bank of America Merrill Lynch gearbeitet. Er lebt seit 19 Jahren in Großbritannien.SPIEGEL ONLINE: Die britische Großbank HSBC hat sich auch im Falle eines Brexits zu ihrem Standort London bekannt, andere Banken spielen jedoch bereits Umzugsszenarien durch. Welche Folgen hätte der EU-Ausstieg Großbritanniens für den Finanzplatz London?
Schmieding: Ein Brexit würde das Dienstleistungsgewerbe hier insgesamt schwächen. Der Großraum London ist das Dienstleistungszentrum Europas, nicht nur im Finanzsektor. Wenn der freie Zugang zum europäischen Markt nicht mehr sicher wäre, würde es einige Verlagerungen von Arbeitsplätzen geben. Vermutlich würden einige nach Edinburgh gehen - falls die Schotten in der EU bleiben und sich von den Engländern trennen. Auch nach Dublin könnte es Abwanderungen geben und vielleicht in kleinem Umfang auch auf den europäischen Kontinent.
SPIEGEL ONLINE: Würde Frankfurt profitieren?
Schmieding: Ich glaube, dass wir in Frankfurt nur wenig merken würden. Entscheidend ist aber, wie im Falle eines Brexits die Verhandlungen über den künftigen Zugang zum Euromarkt ausgehen würden. Bei einer gütlichen Einigung dürfte es nur geringe Verlagerungen geben. Würde Großbritannien aber andere Regulierungen wollen, wären die Auswirkungen wahrscheinlich größer.
SPIEGEL ONLINE: Warum sollte uns in Deutschland der drohende Ausstieg Großbritanniens interessieren?
Schmieding: Wenn ein großer Handelspartner wie Großbritannien die EU verlässt, ist das erstens ein wirtschaftlicher Rückschlag - auch für uns. Zweitens würde es das politische Gefüge Europas berühren. Auch der Zusammenhalt zwischen Deutschland, Frankreich und Italien würde zumindest an den Märkten in Frage gestellt. Es ist im Interesse aller, den Brexit zu vermeiden. Im Vergleich dazu war die Frage des Grexits, dem Austritt des kleinen Griechenlands aus dem Euro, relativ unwichtig.
SPIEGEL ONLINE: Wie zuversichtlich blicken Sie auf das Treffen?
Schmieding: Natürlich macht mich das unruhig, die politischen Risiken in Europa sind groß. Aber dieses Treffen ist gut vorbereitet. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich die meisten EU-Staaten mit Großbritannien einigen - mit leichten Zugeständnissen an London. Gut möglich ist zwar, dass einige Länder gerade aus Osteuropa ihre Zustimmung für einige Wochen zurückhalten, bis ihnen finanzielle Gegenleistungen geboten werden. Aber das ließe sich lösen.
via SPIEGEL ONLINE
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