Mutmaßlicher Missbrauch durch Entwicklungshelfer Der "Opa" und "seine Jungs" in Kenia
Ein Deutscher soll in Kenia jahrelang Minderjährige sexuell missbraucht haben. Er betrieb ein Entwicklungshilfeprojekt, das die katholische Kirche förderte. Warnungen vor dem Mann blieben lange folgenlos.
Aus Nairobi und Bahati, Kenia, berichten Heiner Hoffmann und Birte Mensing
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Das Tor zur Farm ist verschlossen, zwei Deutsche Schäferhunde bellen bedrohlich, wenn man sich nähert. Auf dem Feld sollte gerade der Weizen stehen, erzählt eine Mitarbeiterin im Vertrauen, doch es liegt brach. Mehrere Traktoren und ein Lkw rosten vor sich hin. Der Besitzer, der 62-jährige Deutsche Harald D.*, kann sich nicht mehr um sein Land kümmern. Er sitzt im Gefängnis, wartet auf seinen Prozess. Denn hinter dem silbernen Wellblechtor sollen furchtbare Verbrechen geschehen sein.
Bahati, das Glück, so nennen die Einwohnerinnen und Einwohner diese Gegend im Westen Kenias, nahe der Stadt Nakuru; Touristen gehen hier in der Gegend auf Safari. Mindestens zehn Kinder, Jugendliche und junge Männer hatten gehofft, auch endlich ihr Glück zu finden. Es hatte plötzlich gut ausgesehen für sie, da war dieser weiße Mann aus Deutschland gekommen und hatte ihnen eine bessere Zukunft versprochen. Er übernahm ihre Schulgebühren, er besorgte ihnen Handys, er verpflegte sie, am Ende gab es sogar noch Geld für die Arbeit auf seiner Farm. So steht es in den Akten der Ermittler, so erzählen es Angehörige, mit denen DER SPIEGEL und der Südwestrundfunk (SWR) in einer gemeinsamen Recherche gesprochen haben.
D.s "Schützlinge" waren männlich und ab zwölf Jahre alt. D. nannte sie "die Jungs", sie nannten ihn "Opa". In der Anklageschrift gegen D. kann man lesen: Er soll die "Jungs" über Jahre missbraucht und sexuell ausgebeutet haben.
Wenn die Vorwürfe stimmen, dann wäre es die Geschichte eines katastrophalen Versagens, eines Wegschauens, in Kenia und in Deutschland. Es wäre eine Geschichte von Abhängigkeiten, von einem angeblichen weißen Retter, wie es sie in Afrika so viele gibt - oder vielmehr: zu geben scheint. Von Klischees und Rollenbildern, die mutmaßlich grausame Taten begünstigt haben könnten. Und von Opfern, in Heilbronn und Bahati, die es dann so nicht hätte geben müssen.
In Bahati, dem Ort des Glücks, reden die Bewohnerinnen und Bewohner nicht gerne über die Vorwürfe. Sexuelle Gewalt ist in Kenia nach wie vor ein Tabuthema, Opfer werden zeitlebens stigmatisiert, vor allem wenn es sich um junge Männer handelt. Eine Mitarbeiterin der Farm verteidigt D., sie könne sich all das wirklich nicht vorstellen.
Grace hat keine andere Wahl, sie muss es sich vorstellen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, seitdem D. verhaftet wurde. Ihr Sohn und ihr Enkelsohn sind inzwischen im Zeugenschutzprogramm, als mutmaßliche Opfer des Deutschen. Grace, ihren vollen Namen will sie lieber nicht verraten, steht vor riesigen Gewächshäusern, trägt Gummistiefel und die lilafarbene Schürze ihres Arbeitgebers. Die 50-Jährige arbeitet als Erntehelferin, wie so viele in der Region, das Einkommen reicht kaum zum Überleben.
Dann beschreibt Grace, wie froh sie war, dass der "Mzungu", der Weiße, sich um ihren Sohn kümmern wollte. Im Dezember vergangenen Jahreshabe das begonnen, zunächst sei der Junge jeden Samstag und Sonntag auf der Farm gewesen, ab Januar habe er komplett bei D. gewohnt. Zwei Wochen später habe er noch Graces Enkelsohn dazugeholt. Der Mzungu habe versprochen, ihnen fortan die Schulgebühren zu zahlen, bis hin zur Uni. Die Kinder zeigten Grace stolz ihre neuen Schuluniformen und Ranzen, alles bezahlt von D.
"Ich dankte Gott für diese Gelegenheit, sie sollte uns aus den Fesseln der Armut erlösen", erzählt Grace. Zweifel habe sie zunächst keine gehabt, schließlich sei D. ein älterer weißer Mann. Genau das ist Teil des Problems: Männer aus Europa gelten in vielen ärmeren Gegenden Afrikas als edle Retter, hinterfragt werden ihre Motive selten. Immer wieder entpuppen sich vermeintliche Entwicklungshelfer als Sexualstraftäter: Ein Priester aus Trier soll über Jahre pornografische Fotos von Minderjährigen in afrikanischen Ländern angefertigt, ein "Doppelleben" geführt haben. Der Fall wird derzeit aufgearbeitet. Auch in Uganda soll ein Deutscher mutmaßlich über Jahre Minderjährige in einem von ihm betriebenen Kinderheim missbraucht haben. Die Liste ließe sich fortsetzen.
"Diese Täter haben oft vielMacht, und sie werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Unsere rechtlichen Standards werden ihnen gegenüber nicht durchgesetzt", sagt die kenianische Kinderrechtsexpertin Sophie Otiende, die selbst Aufnahmezentren für minderjährige Opfer von Menschenhandel betrieben hat.
Mitte Februar ruft die Polizei bei Graces Arbeitgeber an und ordert sie nach Hause. Ihr Sohn und ihr Enkel seien jetzt in einem Zeugenschutzprogramm, die Beamten erzählen etwas von "sexueller Ausbeutung". Grace versteht die Welt nicht mehr. Inzwischen weiß sie: Mehrere "Jungs" hatten sich offenbar zusammengetan, Taten gemeldet. "D. hat das Leben der Kinder ruiniert, sie sind für immer traumatisiert, sie haben ihr Selbstbewusstsein verloren", sagt Grace. Sie will nun wenigstens Gerechtigkeit.
Harald D., der mutmaßliche Täter, ist ein Mann Gottes, so scheint es zumindest. In den 1980er-Jahren wird er ehrenamtlicher Oberministrant in der Gemeinde Heilbronn-Sontheim in Baden-Württemberg. Er, damals Anfang 20, organisiert Ausflüge und Treffen für Jugendliche und Ministranten. Auch Thomas Friedmann, dessen echten Namen wir zu seinem Schutz nicht schreiben sollen, ist dabei. Es sei der Beginn einer langen Leidensgeschichte gewesen, erzählt er heute: "Das fing so mit 12, 13 ungefähr an, bis ich 15 war etwa. Da war das Anfassen in meinem Genitalbereich. Umgekehrt wollte er auch angefasst werden, befriedigt werden. Er hat mir damit Gewalt angetan." Friedmann leide bis heute unter den Folgen des Missbrauchs, sagt er. Er habe lange Probleme gehabt Beziehungen zu führen, habe zwischenzeitlich gar gefürchtet, selbst irgendwann zum Täter zu werden.
Über Jahrzehnte versucht Friedmann die Taten von damals zu vergessen, oder zumindest zu verdrängen. Es gelingt ihm nicht. Dann fallen ihm plötzlich diese Rundbriefe aus Kenia in die Hände: Harald D., der Täter, berichtet von seinem "Projekt" in Bahati, davon, wie er Kindern und Jugendlichen helfe. Bei Friedmann gehen alle Alarmglocken an, er denkt sich: "Das ist ja wie ein Alkoholiker, der im Schnapsladen arbeitet."Er sammelt die Schreiben, er markiert die Stellen, in denen von "Jungs" und "Kids" die Rede ist. Friedmann glaubt, dass der Täter D. gezielt nach Afrika ging: "Harald hat sich ein neues Umfeld gesucht, in dem er mehr Sicherheit hat." Und dieses Umfeld lasse er sich auch noch von gutgläubigen Christen in Deutschland finanzieren.
Denn die Kirche hilft Harald D. gerne. Vor allem in Gemeinden der Diözese Rottenburg-Stuttgart, D.s alter Heimat, wird fleißig gesammelt. Auf einer Webseite der Diözese hieß es 2016 wörtlich: "D. bleibt vor Ort und lebt unmittelbar mit ›seinen‹ kenianischen Jungs, bzw. deren Familien!" Es war wohl als Lob gemeint. Die Sternsinger des katholischen Kindermissionswerks singen regelmäßig für D., bis Ende 2016 kommen stolze 280.000 Euro zusammen. Ebenso umtriebig zeigt sich ein Förderverein namens Karunga, den Unterstützer gegründet haben, allen voran ein ehemaliger Mitarbeiter des Dekanats Heilbronn-Neckarsulm, das zur Diözese Rottenburg-Stuttgart gehört. D. kann sich also auf ein Netzwerk aus katholischen Förderern verlassen.
Friedmann, das Opfer aus den 1980er-Jahren, will nicht mehr tatenlos zusehen. Er geht 2012 zur Polizei, zur Staatsanwaltschaft, erstattet Anzeige gegen D. Er weiß, dass sein eigener Missbrauch verjährt ist, doch er will wenigstens den potenziellen Opfern in Kenia helfen. Das habe er den zuständigen Stellen auch mehrfach erklärt, versichert er. Doch der Fall landet schnell bei den Akten, wird eingestellt.
Anfang 2016 fasst sich Thomas Friedmann wieder ein Herz: Er informiert die Diözese Rottenburg-Stuttgart über die Verbrechen von Harald D. Nun geht alles schneller, als er gedacht hat: Sein Fall wird binnen Wochen anerkannt, er erhält sogar eine Entschädigung, 5.000 Euro, und eine Entschuldigung. Spätestens jetzt sollte den katholischen Gemeinden und Funktionsträgern klar sein: In die Nähe von Minderjährigen gehört Harald D., der vermeintliche Wohltäter in Kenia, nicht.
Es scheint sich tatsächlich etwas zu bewegen: Im Januar 2017 sammelt die Kirchengemeinde in Heilbronn-Sontheim erstmals nicht mehr für D. und seine Projektfarm. Das habe der Gemeinderat so entschieden, heißt es damals in einem Artikel der Heilbronner Stimme. Doch von sexuellem Missbrauch, den Zweifeln über D.s Vergangenheit, ist keine Rede. Vielmehr wird "Intransparenz bei der Verwendung der Spendengelder" als Grund genannt.
Vielleicht liegt es auch an dieser Verstecktaktik, dass andere Kirchgemeinden in der Diözese D. in den kommenden Monaten weiterhin die Treue halten. Noch 2018, mehr als ein Jahr nach der Anerkennung seiner Missbrauchstaten, wird für D. gesammelt - das räumt die Diözese selbst ein. Auf Anfrage weist ein Sprecher der Diözese die Verantwortung von sich. Die einzelnen Kirchgemeinden würden "als rechtlich eigenständige Körperschaften selbst entscheiden, für wen sie sammeln". Ein Rundschreiben, eine flächendeckende Warnung vor einer Unterstützung des Projekts gab es offenbar nie.
Thomas Friedmann lässt der Gedanke an die Opfer in Kenia auch in den Monaten darauf nicht los. Er informiert nun auch das Kindermissionswerk, die katholische Einrichtung koordiniert die Sternsinger. Tatsächlich werden daraufhin zwei Anwältinnen in Kenia damit beauftragt, ein Gutachten zu erstellen, sie besuchen D.s Farm bei Nakuru. Ende 2018 liegt ein Ergebnis vor, es ist alarmierend. Zwar kann zu diesem Zeitpunkt noch kein konkreter Missbrauchsfall festgestellt werden, aber die Anwältinnen beschreiben ungeklärte Todesfälle unter den Jugendlichen, beklagen fehlende Bildungserfolge der vermeintlichen Schützlinge.
Die Gutachterinnen reden auch lange mit D. selbst, es müssen erstaunlich offene Gespräche gewesen sein. D. spricht, so steht es im Gutachten, über seine Bisexualität, er gesteht sogar ein, "dass die Vorwürfe des damals minderjährigen Jungen in Deutschland stimmen". D. wird zitiert, er sei davon ausgegangen, dass die Handlungen einvernehmlich gewesen seien und habe erst später begriffen, dass etwas nicht stimmte - als das Opfer weinend in einer Ecke saß. Doch damit nicht genug: D. gibt auch zu, sich einem jungen Mann auf seiner Farm angenähert zu haben, doch der habe eine Beziehung schließlich abgelehnt. Das Fazit der Anwältinnen: Es gebe keinerlei Schutzmaßnahmen für Minderjährige vor Ort, keine Aufsicht, nichts. Rechtliche Vorgaben würden umfänglich verletzt.
Dieses Gutachten übermittelt das Missionswerk dem Bundeskriminalamt sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisseauch dem deutschen Verein Karunga, der sich zu dieser Zeit stark für D. engagiert, Gelder einwirbt. Doch dort passiert am Ende: nichts. Der Vereinsvorsitzende Peter Seitz hält bis 2021 an D. fest. In einer Mail an den SWR nennt er die mutmaßlichen Missbrauchsfälle in Kenia "einschlägige Vorkommnisse", die durch einen Rückzug seines Vereins aus dem Projekt "nicht vermieden worden" wären.
Protokoll des Wegschauens und IgnorierensDem SPIEGEL und Südwestrundfunk liegen Mailwechsel zwischen Vereinsvertretern und Ereignisprotokolle von Mitgliedern vor. Es sind Zeugnisse des Wegschauens und Ignorierens seitens der Vereinsverantwortlichen. Mehrfach weisen demnach Mitglieder auf die untragbare Situation hin, es kommt sogar zu Austritten. Doch Konsequenzen zieht der Vereinsvorsitzende nicht. In einer Stellungnahme gegenüber dem SWR schreibt Peter Seitz, Missbrauchsvorwürfe seien schließlich "bei verschiedentlichen Nachfragen verneint" worden. Ob die Jugendlichen oder der mutmaßliche Täter selbst befragt wurden, lässt er offen.
Fest steht: Noch bis 2021 konnte sich D. auf Unterstützung aus Deutschland verlassen. Er baute seine Farm aus, bezahlte von den Spendengeldern unter anderem Schulgebühren für die mutmaßlichen Opfer.
Aus Ermittlerkreisen erfährt DER SPIEGEL erschreckende Details: D. sei mit einigen Opfern auch ans Meer gefahren, habe sie dort missbraucht. Es könnten sogar weitere Täter im Spiel sein. D. habe sich immer wieder von den Minderjährigen massieren lassen, so den Missbrauch eingeleitet. Es soll ein Video geben. Nachdem er aufgeflogen war, habe D. versucht Zeugen und Verfahrensbeteiligte zu beeinflussen, um einen Prozess abzuwenden.
"Man hätte wohl viele dieser Taten verhindern können"Auf einen Fragenkatalog von SPIEGEL und SWR reagiert D.s Anwalt nicht, ein Interview lehnt er ab.Vor Gerichthat Harald D. seine Unschuld beteuert.
Auch in Kenia wird der Fall jetzt aufgearbeitet, denn nicht nur in Deutschland schauten die Verantwortlichen lange weg. Das Gutachten der Anwältinnen blieb in Schubladen kenianischer Behörden liegen, Warnungen wurden nicht ernst genommen. Bernard Kipkoech vertritt im Verfahren die Opfer, er sieht ein System dahinter: "Harald D. hat viel Einfluss in dieser Gegend, er hat sich als Retter präsentiert. Wir müssen alles tun, um solche Fälle in Zukunft zu verhindern."
Thomas Friedmann ist entsetzt, dass seine schlimmsten Befürchtungen mutmaßlich wahr geworden sind. Zehn Jahre lang habe er versucht, die Kinder und Jugendlichen aus D.s Hof rauszuholen, vergebens. Wenn er in den Rundbriefen von den "Jungs" in Kenia las, musste er an seinen eigenen Missbrauch denken. "Man hätte wohl viele dieser mutmaßlichen Taten verhindern können", sagt er heute. Nun hofft er, dass D. endgültig hinter Gitter kommt.
*Name von der Redaktion geändert, da noch kein rechtskräftiges Urteil gesprochen wurde