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Risikogruppen: Immer noch Homeschooling

Pünktlich um 8 Uhr morgens beginnt der Schultag am großen Küchentisch von Familie Meier*. Links der achtjährige Thomas, gegenüber seine große 14-jährige Schwester Laura. Vor ihnen liegen Schulbücher, Arbeitsblätter, ein Tablet für Lernvideos. Dazwischen steht der Laptop von Mutter Sabine. In ruhigen Minuten erledigt die Unternehmensberaterin aus Thüringen E-Mails und Organisatorisches. Richtig arbeiten kann sie erst nach Schulschluss ihrer Kinder. "Meine Tage sind seit Corona vollgepackt und immer zu kurz", sagt sie.

Während die meisten Schülerinnen und Schüler wieder im Klassenzimmer lernen, gibt es bei den Meiers weiter Homeschooling. Grund dafür sind die Vorerkrankungen von Thomas. Der Achtjährige hat gleich zwei seltene Erkrankungen an Herz und Lunge. Auch in einer normalen Erkältungssaison fehlt er oft wochenlang in der Schule. Eine Grippeimpfung für die ganze Familie ist seit Jahren Pflicht. Deshalb riet auch der Kinderarzt eine Corona-Infektion unbedingt zu vermeiden. Konkret bedeutet das: Thomas darf nicht in die Grundschule gehen, sondern wird mit ärztlichem Attest weiter zu Hause unterrichtet.

Die Regelungen in solchen Fällen sind eindeutig. Bundesweit können Kinder mit Vorerkrankungen vom Präsenz-Unterricht befreit werden - eine ärztliche Empfehlung genügt.

"Grundsätzlich habe ich großes Vertrauen in unser Bildungssystem", sagt seine Mutter Sabine. Für die Lehrkräfte, aber auch für sie selbst, die in Vollzeit arbeitet, ist das Homeschooling anstrengend. "Aber die Gesundheit meines Sohnes geht einfach vor", sagt sie. Deshalb geht die Familie noch einen Schritt weiter: Auch die große Schwester bleibt zu Hause, obwohl sie gesund ist und eigentlich in die Schule müsste.

Sieben Monate Homeschooling ist schwierig

In den meisten Bundesländern gilt seit den Sommerferien wieder die Präsenzpflicht, auch für Kinder, die mit Eltern oder Geschwistern zusammenleben, die zur Corona-Risikogruppe zählen. Ausnahmen sollen, wenn überhaupt nur zeitbegrenzt und nach entsprechender Bescheinigung durch den Arzt gemacht werden. So steht es in den meisten Verordnungen der Bundesländer. In der Praxis werden oft Einzelfalllösungen gefunden, getragen von den Schulen und zuständigen Schulbehörden. Wie viele Kinder insgesamt wegen einer Erkrankung zu Hause unterrichtet werden, darüber gibt es keine bundesweiten Zahlen. Nur Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht Zahlen über die Risikoschülerinnen und -schüler, dort waren es im August knapp 200.

Für Sabine Meier gibt es keine andere Option, als beide Kinder zu Hause zu lassen. Sie glaubt nicht, dass die Hygiene-Konzepte der Schulen viele Ansteckungen verhindern können. Zwar sind bislang die Infektionsraten an Schulen nicht besonders hoch, aber sie steigen. Und ihren Sohn im Haus zu isolieren oder den Kontakt zwischen den Geschwistern zu verhindern, sei auch ein Unding. Als Gegnerin der Schulpflicht oder als übervorsichtige Mutter will die Unternehmensberaterin nicht verstanden werden - ganz im Gegenteil, allen Familienmitgliedern wäre eine Rückkehr zur Normalität und in die Schule lieber. Leider ist die ohne wirksamen Impfstoff für Thomas in weiter Ferne. "Niemand tut sich sieben Monate zwischen Homeoffice und Homeschooling freiwillig an. Das haben wir uns sehr gut überlegt. Ich bin schließlich keine Pädagogin und meine Kinder gehen eigentlich auch gerne zur Schule", sagt Meier.

Welche Kinder zählen zur Risikogruppe?

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Welche Auswirkungen eine Corona-Infektion auf chronisch kranke Kinder wie Thomas hätte, kann niemand genau sagen. Die Studienlage ist dünn. "Kinder und Jugendliche zeigen bisher deutlich seltener schwere Verläufe. Anders als bei den Erwachsenen kennen wir auch keine genauen Risikogruppen für die sehr jungen Patienten", sagt Johannes Hübner, Professor für Pädiatrische Infektiologie am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität. So gab es in Italien sogar Corona-Fälle auf einer Kinderkrebsstation. Unter den Infizierten waren auch Kinder mit durch die Chemotherapie stark geschwächtem Immunsystem. Kritische Verläufe gab es trotzdem nicht.

Als eine pauschale Entwarnung sieht Hübner solche Berichte nicht. So gebe es weiterhin genug Kinder, die unbedingt vor einer Infektion der Atemwege geschützt werden sollten - weil sie zum Beispiel an einer chronischen Lungenerkrankung leiden. Diese Empfehlung galt schon vor der Corona-Pandemie. Kinder mit chronischen Atemwegserkrankungen werden vor jeder Grippesaison geimpft und stärker überwacht. Bei ihnen halten sich Erkältungen hartnäckiger, auch Lungenentzündungen treten häufig auf. Nicht selten fehlen diese Kinder in den Wintermonaten sehr häufig in der Schule. "Es wird in dieser Situation keine Patentlösung geben, weder in die eine oder die andere Richtung. Die endgültige Entscheidung über das Risiko eines Schulbesuchs sollten deshalb die behandelnden Ärzte und Eltern gemeinsam treffen", sagt Hübner. Bei Thomas kommt erschwerend dazu, dass seine Erkrankungen von Herz und Lunge von zwei seltenen und deshalb kaum erforschten Gendefekten verursacht werden.

Ohne Engagement der Lehrkräfte und Eltern geht es nicht

Zum Glück unterstützten die Schulleitungen, die Klassen- sowie Fachlehrer die Eltern bei ihrer Entscheidung gegen die Rückkehr ins Klassenzimmer. Keinesfalls selbstverständlich, wie ein Erfahrungsberichte etwa aus Nordrhein-Westfalen auf der Plattform News4teachers zeigt. Dort wird von Schulleitungen und Behörden berichtet, die auf Präsenzpflicht bestehen, obwohl Geschwister oder Eltern zur Risikogruppe zählen.

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