Eine Frau beschließt eines Nachts, kein Fleisch mehr zu essen. "Ich hatte einen Traum", begründet sie ihren Verzicht. Ihr Mann, der seine Frau für völlig unscheinbar hält und sie geheiratet hat, weil sie so gut kochen kann, ist fassungslos. Er findet sie in besagter Nacht auf dem Küchenfußboden, umgeben von Plastiktüten voller verschiedener Fleischsorten: Fonduefleisch, Schweinebauch, zwei Packungen Rinderfilets, Tintenfisch, Aal, gepökelten Trockenfisch, Teigtaschen. Dinge, die man in Südkorea so im Gefrierfach hat. All das möchte Yong-Hye nicht mehr essen. Auch verzichtet sie auf andere tierische Nahrungsmittel, irgendwann nimmt sie kaum noch Nahrung zu sich.
Kafkaesker HungerstreikDie Familie versucht, sie umzustimmen, der Vater zwingt sie sogar mit Gewalt, Fleisch zu essen. Ähnlich wie in Kafkas Erzählung " Ein Hungerkünstler" möchte die Familie Yong-Hye helfen, ohne sie dabei wirklich zu verstehen. Der Vater wird dabei Sinnbild für das Gesetz und die Gewalt. Er verkörpert in Han Kangs Roman das Prinzip des Fleischessens und des Gehorsams „Iss! Gehorche deinem Vater und iss!", sagt dieser immer wieder. Gegen all das möchte sich Yong-Hye wehren, bis hin zur Selbstzerstörung. Sie behauptet, eine Pflanze zu sein. In der Öffentlichkeit beginnt sie, ihr Oberteil auszuziehen, ihr Gesicht und ihre nackten Brüste der Sonne entgegenzustrecken wie ein Lebewesen, das die Photosynthese braucht. Irgendwann meint sie, nichts als Sonne und Wasser zu benötigen.
GrenzüberschreitendBereits 2007 erschien Han Kangs Roman "The Vegetarian" und gelangte über Umwege nach Europa. Im Mai gewann das Buch den internationalen Man Booker Prize, der mit 25.000 Pfund dotiert ist. Zur Begründung heißt es:
Das in drei Akten und in verschiedenen Perspektiven erzählte Buch zeigt präzise die Ablehnung aller Konventionen und Verpflichtungen einer Frau, die sie an ihr Zuhause, ihre Familie und an die Gesellschaft binden. Das kompakte, exquisite und beunruhigende Buch wird noch lange in Erinnerung und vielleicht auch in den Träumen seiner Leser bleiben.
Boyd Tonkin, Man Booker Prize Jurymitglied 2016 In einem schlichten, schnörkellosen Stil erzählt Han Kang die Geschichte einer südkoreanischen Familie, die gleichzeitig ein Sinnbild für die Gesellschaft bildet. Der Fleischkonsum gilt dort auch als Zeichen des Wohlstands, 2013 betrug er laut Fleischatlas jährlich 62,3 Kilogramm pro Kopf. Ein Verzicht wie in Han Kangs Buch kommt einer Absage an das bürgerliche Leben gleich. "Die Vegetarierin" handelt von der Freiheit des Menschen, zu verzichten. Und davon, für ein Ziel bis zum Äußersten zu gehen.
Die Rezension zum Nachhören: