Als Teenager habe ich die Gedichte von Seamus Heaney gelesen und glaubte, die Lösung für mein Problem gefunden zu haben. In "" vergleicht der irische Bauernsohn das Torfstechen seiner Vorfahren auf dem Feld mit dem Schreiben: Der Spaten, mit dem er gräbt, ist der Stift zwischen seinen Fingern.
"Between my finger and my thumb the squat pen rests. I'll dig with it." "Zwischen meinem Zeigefinger und meinem Daumen, ruht der plumpe Stift. Ich werde mit ihm graben."Diese Zeilen berührten mich, gaben sie mir doch das Gefühl, dass mein Vater und ich vielleicht mehr gemeinsam hatten, als wir uns zugestanden: Er war mit 16 bereits in der Tischlerlehre. Ich war mit 16 noch am Gymnasium und plagte mich mit Latein. Er trug damals sein eigenes Körpergewicht in Form von Holzbrettern umher. Ich quälte mich durch Bücher. Und dabei überholte ich ihn. Zumindest dachte ich das.
Vorher war es ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das unserer Beziehung ausgemachte. Er der Lehrer, ich sein Schüler. Ich erinnere mich, wie er mir das Skifahren beibrachte an einem der Hügel des Dorfes in den österreichischen Alpen, wo ich aufwuchs. Mein Knie trägt noch heute ein blasses Zeichen unserer ersten Fahrradtour, auf der ich mich lang legte, weil ich nicht auf seine Warnung hörte. Bis zu meinem 15. Lebensjahr war das Ergebnis all unserer Ausflüge und Gespräche klar: Er wusste es besser. Dann änderte sich das.
In Österreich wird der Bildungsgrad in der Regel vererbt. Laut dem Momentum Institut schließen Arbeiter- und Akademikerkinder noch zu gleichen Teilen die Grundschule ab - es gelten neun Jahre Schulpflicht. Das Abitur schaffen aber nur etwas mehr als ein Drittel der Arbeiterkinder. Bei den Akademikerkindern sind es acht von zehn, die danach auf die Universitäten dürfen. Zu Beginn eines Bachelorstudiums ist das Verhältnis von Arbeiter- zu Akademikerkindern schließlich eins zu drei. Ähnliches gilt für Deutschland. Laut dem Hochschulbildungsreport 2020 des Stiftungsverbands und der Unternehmensberatung McKinsey beginnen von 100 Nichtakademikerkindern nur 21 ein Studium. Unter den Akademikerkindern sind es 74, die an die Uni gehen. Noch drastischer sind die Zahlen für Bachelorabschlüsse - einen solchen erreichen Akademikerkinder viermal häufiger als Nichtakademikerkinder.
Mein Vater ist Sohn eines Tischlers und einer Hilfsarbeiterin. Als ich ihn fragte, wieso er nicht länger an der Schule war, sagte er: "Ich war zu faul. Die Schule hat mich nie interessiert." Dabei war er kein fauler Mensch. Ich erinnere mich an viele Tage, an denen er morgens um halb sieben das Haus verließ und bis nachts noch in der Werkstatt stand.
"Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat", schreibt der Schriftsteller Edouard Louis in einem Essay über seinen Vater, einen durch die Arbeit invalide gewordenen Fabrikarbeiter in einer französischen Kleinstadt.
Mein Vater erkannte rechtzeitig, was ein Leben als Tischler mit dem Körper anrichtet. Und er wollte das nicht. Deswegen suchte er sich nach 15 Jahren als Tischler, mit Anfang 30, eine Stelle als Möbelverkäufer. Später wechselte er zur Berufsfeuerwehr, danach ins Büro der Verwaltung einer Kleinstadt. Bis heute ist seine Lunge beeinträchtigt von den Lack-Dämpfen und dem feinen Holzstaub, die er in der Werkstatt täglich eingeatmet hat. Torfstecher und Tischler brauchen, nein, verbrauchen bei der Lohnarbeit ihren Körper, manche verlieren einen Finger, andere brechen sich den Rücken.
Mein Vater wechselte nicht nur mühsam von der Werkbank an den Schreibtisch. Er versuchte auch mehrfach, nochmal zu lernen, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Sein Tischlermeister genügte ihm irgendwann nicht mehr. Das lag bestimmt auch an mir. Drei-, viermal die Woche saß er nach der Arbeit in der Abendschule. Ich erinnere mich an seine Müdigkeit, den Frust und an den Tag, als er schließlich aufgab. Ein paar Jahre später versuchte er es noch einmal, trat zum Examen an und scheiterte.
Meine Schwester und ich kamen in der Schule unterdessen gut voran, brachten lateinische und französische Vokabeln, den Dreißigjährigen Krieg, Ribosomen und Mitochondrien an den Küchentisch. Diskutierten wir beim Essen, schwieg mein Vater meistens oder sagte seine Meinung. Diese Gespräche führten oft zu einem fiesen Machtkampf, in dem ich, der Halbwüchsige, ihn vor der Familie korrigierte. Ich spürte eine Mischung aus Genugtuung und Scham.
Umgekehrt demonstrierte er "seinen" Bereich umso mehr. Er war der handwerklich Begabte. Er konnte alles reparieren, eine ganze Wohnung einrichten, nur mit einer Ladung Holz, Leim und Werkzeugen. "By God, the old man could handle a spade" ("Bei Gott, der alte Mann wusste, wie man mit einem Spaten umgeht"), staunt das lyrische Ich aus Heaneys "Digging", "Just like his old man." ("Genau wie sein alter Mann.")
Während meines Studiums zog ich von zu Hause aus und unser Verhältnis wurde schlagartig besser. Vielleicht war es die Distanz, vielleicht haben wir Pubertät und Midlife-Crisis hinter uns gelassen. Jedenfalls können wir heute miteinander zerbrochene Stühle reparieren und E-Mails korrigieren, ohne uns zu streiten. Vielleicht sind unsere Gespräche etwas oberflächlicher geworden. Jeder lebt sein Leben. Vielleicht ist genau das der Idealzustand.
Wenn ich heute auf meine weichen, rosafarbenen Hände schaue, dann frage ich mich manchmal, was passiert wäre, wenn ich auch Tischler geworden wäre. Wenn ich mit meinen alten Freund:innen aus dem Dorf beisammen bin, sind das die, die nicht - wie ich - zur Uni gegangen sind. Ich sehe Mittzwanziger mit Bandscheibenvorfällen und Burn-out. Das hätte ich sein können, denke ich dann. Heute wird oft völlig undifferenziert von vermeintlich arbeitsscheuen Millennials und der Gen Z geschrieben. Nichts ist an der Forderung falsch, weniger Stunden zu arbeiten und gesünder zu leben, aber das ist ein Privileg. Generationenkonflikte können auch Klassenkonflikte sein.
Ich wünschte, mein Vater würde einsehen, dass es nicht nur an ihm liegt, dass er nie eine Reifeprüfung abgelegt hat. Dass im kapitalistischen Realismus verständlicherweise identitätspolitische Kategorien wie Geschlecht, Sexualität oder Herkunft deutlicher aufgezeigt und thematisiert werden, dabei soziale Unterschiede jedoch oft völlig ignoriert werden. Dass, wenn wirklich jeder seines Glückes Schmied ist, es darauf ankommt, mit welchen Werkzeugen, mit wie viel Kohle, Feuer und Eisen man ausgestattet wurde. Ich diskutiere nicht mit ihm darüber, weil selbst das Reden und Nachdenken über Klassenverhältnisse zu einem Privileg geworden ist. Egal, was ich sage: Er wird immer denken, dass es die Glücksschmied-Zunft ganz gut mit ihm gemeint hat, dass mit viel Willenskraft alles möglich ist.
Vor wenigen Wochen erzählte mir mein Vater am Telefon, dass er mit 55 noch einmal an die Schule gehen wolle: endlich Abi machen. Ich war überrascht. In seinem Schrank stapeln sich Schulbücher von den letzten Versuchen. Seit seiner Ausbildung in den Achtzigerjahren hat sich die Anzahl der Lehrlinge in Österreich trotz steigender Bevölkerungszahlen quasi halbiert. 2019 hatten nur ein Drittel der Österreicherinnen einen Lehrabschluss als höchsten Bildungsgrad. Die Akademisierungsquote steigt hingegen seit Jahren an. Noch bevor sie wahlberechtigt sind, müssen sich Menschen - nicht nur in Österreich - für einen Bildungsweg entscheiden. Und für viele entscheiden zu einem nicht unwesentlichen Teil die äußeren Umstände.
Heute bin ich beeindruckt, dass mein Vater sein ganzes Leben lang an Weiterbildung geglaubt hat. Er hat keine Chance ausgelassen, in der Arbeit Kurse und Seminare zu belegen, neue Dinge zu lernen, es immer wieder zu versuchen. Ich wünsche ihm, dass er nun auch noch die Reifeprüfung schafft und dass er zugleich nicht zu hart mit sich selbst ist. Vielleicht hat er beim Graben spätes Glück.