text: Benjamin Dierks fotos: Axel Martens
Wird die Krise bald überwunden sein? Geht ein sozialer Riss durch Europa? Und welchen Einfluss hat die EU auf die Wirtschaft der einzelnen Mitgliedsstaaten? - Wir trafen Prof. Dr. Olli Rehn, Kommissar für Wirtschaft und Währung, zum Interview in Brüssel.
Herr Professor Rehn, wie man hört, ist das Schlimmste überwunden.Wenn das Schlimmste bedeutet, dass wir uns ernsthaft Gedanken über den Fortbestand des Euro machen müssen, dann ist es vorbei. Meiner Ansicht nach haben wir die Phase überstanden, in der es nicht mehr sicher war, ob der Euro wirklich unumkehrbar ist.
Aber in manchen Ländern ist die Hälfte der jungen Leute arbeitslos, steht uns da nicht noch einiges bevor?Ich bin mir voll und ganz bewusst darüber, dass die Arbeitslosigkeit in vielen Teilen Europas noch sehr hoch ist. Und wir stecken immer noch in einer Rezession. Deshalb haben wir keinen Grund, selbstgefällig zu werden. Stattdessen müssen wir auf Reformkurs bleiben und das Gleichgewicht in der europäischen Wirtschaft wiederherstellen, damit wir nachhaltiges Wachstum und Jobs schaffen.
Viele Europäer würden Ihnen da nicht zustimmen, sie haben genug vom Sparkurs.Leider dauert es länger, bis die Reformen die Realwirtschaft und das Leben der Menschen verbessern. Wie gesagt, ich weiß, dass wir in der Rezession sind und hohe Arbeitslosenquoten haben. Für viele europäische Bürger ist das hart und die kommenden Monate werden sozial sehr schwierig. Auf der anderen Seite gibt es klare und gute Signale. Wir haben mehr Zuversicht und eine ruhigere Situation an den Märkten, was normalerweise den Weg für wirtschaftliche Erholung ebnet. Und nicht nur ich glaube, dass die Wirtschaft sich im Laufe des Jahres erholen wird, wenn wir auf dem Kurs von finanzieller Konsolidierung und Strukturreformen bleiben. Das ist ja eher eine allgemeine Annahme, denke ich. Und dann werden wir auch nachhaltigeres Wachstum und eine bessere Lage am Arbeitsmarkt haben.
Woher nehmen Sie die Zuversicht?Vor einem Jahr waren wir in der umgekehrten Situation. In der ersten Jahreshälfte waren die Wachstumszahlen etwas besser als erwartet, während die Stimmung am Markt und die Zuversicht der Investoren schon anfingen zu fallen. Die Wirtschaft wuchs noch, die Marktstimmung tauchte aber schon ab. Und dann folgte die Realwirtschaft. Jetzt ist die Wirtschaft noch unten, während die Märkte sich erholen. Und mit der steigenden Zuversicht werden wir zur Erholung zurückkehren.
Nicht einmal in der EU-Kommission glauben alle, dass es so glimpflich ausgeht. Beunruhigt es Sie nicht, dass Ihr Kollege, Arbeitskommissar Laszlo Andor, vor einer sozialen Spaltung in Europa warnt?Mich beunruhigen sowohl die politische Kluft in Europa als auch die sozialen Folgen der Finanzkrise. Der beste Weg, diese sozialen Folgen anzugehen, ist aber, auf dem Reformkurs zu bleiben und Bedingungen für Wirtschaftswachstum, mehr soziales Wohl und mehr Arbeit zu schaffen. Und das Rezept für die Überwindung der politischen Teilung sind politische Initiativen und Brückenbildung zwischen der so genannten Stabilitätskultur des Nordens und der Solidaritätskultur des Südens.
Das müssen Sie erklären.Wir tendieren zu einseitigen Kampagnen und einige politische Akteure glauben, dass es eine Wunderwaffe gegen die Krise gibt. Ich glaube nicht daran. Ich glaube nicht, dass es den einen Königsweg gibt, um die Krise zu bewältigen. Weder Eurobonds noch Haushaltsdisziplin allein können das schaffen. Wir müssen an mehreren Fronten arbeiten, um eine Stabilitätsunion zu schaffen, die Verantwortung und Solidarität bietet. Wir müssen Vertrauen wiederherstellen, indem wir die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen absichern und gleichzeitig wachstumsfördernde Strukturreformen vornehmen. Aber wir wissen, dass Konsolidierung und Reformen Zeit brauchen, bevor sie das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Deshalb ist es in der Zwischenzeit wichtig, dass wir die Lage auch kurzfristig stabilisieren können. Das haben zum einen wir mit einer Kombination aus den Stabilitätsmechanismen der EU gemacht, dem EFSM, der EFSF und dem ESM...
... dem so genannten Euro-Rettungsschirm ... ... und zum anderen die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihren unkonventionellen Mitteln, den LTRO oder den SMP- und OMT-Programmen.
Das sind langfristige Refinanzierungsgeschäfte, mit denen die EZB den Banken 1.000 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt hat, und die Programme der Notenbank zum Kauf von Staatsanleihen. Es scheint, als habe die EZB damit für mehr Ruhe gesorgt als EU-Staaten und Kommission.
Man muss an die Grundlagen gehen, um Bedingungen für mittel- und langfristiges Wachstum zu schaffen. Aber man muss auch kurzfristig überleben, und deshalb braucht man diese kurzfristigen Instrumente zur Stabilisierung, die sowohl die Mitgliedsstaaten als auch die Europäische Zentralbank genutzt haben.
Und das ist das, was Sie als Brückenschlag zur Solidaritätskultur des Südens beschreiben?Ich würde sagen, dass dies in erster Linie Werkzeuge für die Stabilisierung der gesamten Eurozone sind. Solidarisch ist eigentlich beides, diese kurzfristige Stabilisierung wie auch die längerfristigen Lösungen für nachhaltige öffentliche Finanzen. Es kann keine weitere Vergemeinschaftung des wirtschaftlichen Risikos geben, ohne dass wir vorher die Entscheidungsfindung stärker verflechten und die Finanzhoheit noch mehr gemeinsam ausüben, ob wir nun von Stabilitätsanleihen oder Eurobonds irgendeiner Form reden. Ich bin stark in der Stabilitätskultur verankert. Wir müssen erst sicherstellen, dass wir eine stärkere wirtschaftliche Steuerung haben, die uns Finanzdisziplin und wirtschaftliche Nachhaltigkeit bringt.
Aber wenn wir von Solidarität sprechen, wie wollen Sie verhindern, dass wir eine ganze junge Generation verlieren, die jetzt am stärksten unter der Krise leidet?Indem wir die industrielle Basis Europas wiederaufbauen, die in letzter Zeit stark bedroht ist, und indem wir dadurch Jobchancen für junge Leute schaffen. Ich will darüber hinaus in einen echten Dialog mit der jüngeren Generation treten. Ich möchte erfahren, ob sie will, dass Europa weiter voranschreitet, und welche Art von Europa sie erwartet.
Mit Dialog meinen Sie, dass Sie sich von Angesicht zu Angesicht zusammensetzen?Ich meine Kontakt in Schulen oder in einem anderen Rahmen. Das mache ich meistens in meinem eigenen Land, das ich am besten kenne. Dann gab es das Weltwirtschaftsforum in Davos, dort habe ich natürlich vor allem die Business Community getroffen. Aber in der Woche darauf war ich beim Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Madrid.
Hat die europäische Wirtschaftspolitik das Leben der Europäer jemals so stark beeinflusst wie heute?Das ist schwierig zu sagen und hängt davon ab, wie man Wirtschaftspolitik definiert. Aber natürlich hat die Europäische Union in den letzten 60 Jahren mehr und mehr Verantwortung übernommen, von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den Gemeinsamen Markt zur gemeinsamen Währung. Allerdings ist die Architektur der EWWU, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, immer noch nicht komplett. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Krise Europa so hart getroffen hat. Jetzt müssen wir die Lehren aus der Krise ziehen und die wirtschaftliche Steuerung verstärken. Im Grunde bauen wir die Wirtschafts- und Währungsunion gerade erst. Wir werden die EWWU 2.0 haben, die die EWWU 1.0 ersetzt, wie wir sie vor 10 oder 15 Jahren kannten. Die konnte die Krise ganz offensichtlich nicht abwenden.
Im Internet spricht man ja von 2.0, wenn der Nutzer nicht nur konsumiert, sondern sich selbst beteiligt. Wie unterscheidet sich denn die neue Wirtschafts- und Währungsunion von der Vorgängerversion?Vor allem wird sie eine Stabilitätsunion sein, die Verantwortung und Solidarität kombiniert. Sie wird eine erheblich verstärkte wirtschaftliche Steuerung haben, was die politische Abstimmung und die gegenseitige Überwachung der Finanz- und Wirtschaftspolitik betrifft. Das ist die Geschichte der so genannten Sixpack-Regulierung, die die Überwachung von Haushalt und Gesamtwirtschaft der Mitgliedsstaaten schon verstärkt hat. Zweitens haben wir den schon genannten Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM geschaffen, eine internationale Finanzinstitution. Und drittens bauen wir die Bankenunion. Der erste Schritt, die gemeinsame Aufsicht für europäische Banken, wurde im Dezember vereinbart. Der nächste Schritt wird unser Gesetzesvorschlag für die Abwicklung von Banken, den wir im ersten Halbjahr vorstellen wollen.
Sixpack, EFSF, ESM - können Sie die europäische Wirtschaftspolitik eigentlich erklären, ohne diese Spitznamen und Abkürzungen zu benutzen?Ich will es versuchen: Die europäische Wirtschaftspolitik hat zum Ziel, dass sowohl nachhaltiges Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Jobs als auch die Zukunfts-fähigkeit der öffentlichen Finanzen gewährleistet sind. Wir tun das durch Regeln, auf die wir uns geeinigt haben, und Strategien, die wir gemeinsam in der Euro-Zone festgelegt haben.
Das klingt nach viel Einigkeit. Als die Staats- und Regierungschefs vor einem Jahr über eine gemeinsame europäische Wirtschaftsregierung sprachen, meinten sie noch ziemlich unterschiedliche Dinge. Hat sich das geklärt?Das stimmt, die Politiker und Mitgliedsstaaten gingen am Anfang mit unterschiedlichen Vorstellungen in diese Debatte. Aber am Ende werden wir zu einer Einigung finden. Wir werden diesen Prozess noch weiter vorantreiben.
Sind Sie denn mit dem derzeitigen Stand der Einheit zufrieden?Als Endergebnis wäre ich nicht zufrieden damit. Aber wir haben in den letzten drei Jahren die Verstärkung unserer wirtschaftlichen Steuerung mit Sicherheit bedeutend vorangebracht. Und das zeigt schon erste Ergebnisse. Ich meine insbesondere das Feld der öffentlichen Finanzen, wo wir 2009 und 2010 noch Haushaltsdefizite von im Schnitt über sechs Prozent hatten. Im letzten Jahr fielen sie auf ein Mittel von drei Prozent und in diesem Jahr sollten sie auf rund 2,5 Prozent sinken. Wir haben große Fortschritte gemacht, aber für eine echte Stabilitätsunion brauchen wir weitere Schritte.
Und sind Sie mit den Kontrollmöglichkeiten zufrieden, die Sie haben?Wie gesagt, wir haben Fortschritte gemacht und die senken das öffentliche Defizit. Aber durch die so genannte Twopack-Gesetzgebung zum Beispiel, die jetzt durch das EU-Parlament und den Rat der Mitgliedsstaaten geht, wollen wir unser Recht stärken, die Revision nationaler Haushalte zu verlangen, bevor sie an die nationalen Parlamente gehen. So können wir sicherstellen, dass sie den europäischen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten entsprechen. Wir verlangen nicht mehr, als dass jeder Mitgliedsstaat einhält, was er selbst predigt. Ich glaube nicht, dass Kontrolle und Vertrauen sich widersprechen. Vertrauen in die Mitgliedsstaaten ist gut, ich baue darauf, dass eine stabile Wirtschaft ihr Ziel ist. Aber gleichzeitig ist es wichtig, dass die Werkzeuge der EU stark genug sind, um die Einhaltung der Regeln zu erzwingen. Genau das fordern wir bei der Kontrolle der Haushalte.
Reicht es eigentlich aus, wenn eine europäische Wirtschaftsregierung sich nur um Haushaltsdisziplin kümmert?Da muss es definitiv mehr geben. Die Disziplin ist die Grundlage einer stabilen Union. Aber daneben ist es wichtig, dass wir die Strukturreformen überwachen, die noch entscheidender sind für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und Volkswirtschaften. Und es muss auch Regeln geben, um private und öffentliche Investitionen zu erleichtern. Dazu ist es ganz wichtig, dass wir die Reparatur unseres Finanzsystems abschließen. Denn der größte Engpass fürs Wachstum, vor allem in Südeuropa in Spanien, Portugal und Italien, sind die engen Finanzierungsbedingungen vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. In Spanien ist das Exportvolumen größer als je zuvor, aber wir müssen das Finanzierungsproblem lösen, damit Spanien seine Leistungsbilanz noch besser ausgleichen kann. Die steuern auf einen Überschuss zu, das ist beachtlich.
Die Krisenstaaten sollen ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern, um das große Handelsungleichgewicht in der EU auszugleichen. Länder wie Deutschland tragen mit starkem Export und schwacher Binnennachfrage auch dazu bei.
Das ist Teil unserer Empfehlungen an Deutschland. Wir haben Reformen vorgeschlagen, um die Binnennachfrage zu steigern. Deutschland sollte erstens die Löhne parallel zur steigenden Produktivität erhöhen, zweitens mehr in Forschung und Ausbildung investieren und drittens den Anteil der Frauen unter den Erwerbstätigen steigern, zum Beispiel durch Ganztagsschulen und Kinderbetreuung. Ich habe deutsche Freunde in ihren 30ern und 40ern und weiß, dass das ein Problem ist. Bei den ersten beiden Punkten geht es voran, beim dritten noch nicht so. Aber wir werden Deutschland weiter beobachten und ermuntern.