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Von „schweren" und „modernen" Zeiten. Die Entwicklung des Journalismus in historischen Zeitungen

Die Interaktion zwischen Redaktion und Leserschaft ermöglicht es, vielfältige Erkenntnisse über die Entwicklung des Journalismus selbst zu gewinnen. Speziell in historischen Zeitungen und digitalen Archiven ist die Auseinandersetzung mit der Kommunikation zwischen produktiver und rezeptiver Seite ein nützlicher Zugang, um die journalistische Meta-Ebene und Veränderungen in der Medienlandschaft zu erfassen. Deshalb geht es in diesem Blog Post um die Frage, wie Veränderungen im Inneren der Medienproduktion, das heißt vor allem der Redaktion als zentraler Einheit, nach außen vermittelt wurden. Besonders vielsagend sind dabei Artikel, welche aufgrund von technischen Innovationen, gesellschaftlichen Umbrüchen oder politisch außergewöhnlichen Zeiten Hinweise auf das Innenleben der journalistischen Praxis enthielten.

„Schwere Zeiten": Konfiskationen, Kriege und Zensur

Im Kontext der Phrase „an unsere Leser" gibt es viele Bezüge zu Herausforderungen und Schwierigkeiten, welche die Redaktion oder das gesamte Blatt zu bewältigen haben. Die Hinwendung an die Leserschaft diente dabei der Bekräftigung der gemeinsamen Sache und zusätzlich dem moralischen Aufruf zur Unterstützung. Des Weiteren kommen der jeweilige Status und die Entwicklung der Pressefreiheit zum Vorschein. Nach den Revolutionen im Jahr 1848 kam es zu liberaleren Pressegesetzen und teilweise zur Verankerung der Pressefreiheit, zum Beispiel in Deutschland im Jahr 1874 und in Frankreich 1881 (Telesko 2010, S. 232). In Österreich-Ungarn legte der Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus dem Jahr 1867 die Pressefreiheit gesetzlich fest (Melischek/Seethaler 2016, S. 170). Auf formeller Basis gab es damit Schritte hin zu mehr Informations- und Meinungsfreiheit. In der Praxis kann jedoch kaum von einer Pressefreiheit gesprochen werden, da es immer wieder zu Konfiskationen und Zensur kam. Dies teilte ein Blatt, wie zum Beispiel die Wiener Allgemeine Zeitung am 18. September 1880, immer wieder auf der Titelseite mit (Abbildung 1).

"An unsere Leser!

Die heutige Nummer unseres Sechsuhr-Abendblattes wurde wegen eines Artikels über den deutsch-mährischen Parteitag confiscirt. Wir veranstalten eine zweit Ausgabe unter Weglassung des beanstandeten Artikels. Wir bitten unsere Leser um Nachsicht wegen der Zensurlücke, welche die vorliegende Nummer zeigt; eine Ausfüllung derselben durch einen der Staatsanwaltschaft unbedenklich erscheinenden Artikel war der Kürze der Zeit halber nicht mehr möglich.

Die Redaktion der 'Wiener Allgemeinen Zeitung'."

An dem Beispiel ist zu erkennen, dass die Staatsanwaltschaft trotz liberaler Pressegesetze nach wie vor Zeitungen in Beschlag nahm. So kam es nicht selten vor, dass Zeitungen kurzfristig eine zweite Auflage ohne den beanstandeten Artikel herausbringen mussten. Diese konnten sie nicht immer kompensieren, sodass es zu Zensurlücken wie der hier abgebildeten kam. Die Mitteilung „An unsere Leser" verdeutlicht, warum es der Redaktion wichtig war, diese Unregelmäßigkeiten zu erklären. Ihr ging es darum, „unsere Leser um Nachsicht" zu „bitten" und die Störung zu entschuldigen. Die Phrasensuche in ANNO verdeutlicht somit die Unterschiede zwischen gesetzlichen Bestimmungen und der eigentlichen journalistischen Praxis und macht Formen der Zensur sichtbar.

In Kriegszeiten wurden die Einschränkungen der Presse noch weiter verschärft. Im Ersten Weltkrieg kam es zur Vorzensur: Wie exemplarisch der Salzburger Wachtvom 29. Juli 1914 zu entnehmen ist, musste das Blatt drei Stunden vor der Auslieferung der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden. Die Redaktion warnte die Leser*innen vor Unregelmäßigkeiten im Erscheinen und in der Zustellung und bat gleichzeitig um Verständnis. Sie wurde ersucht, „auch über die schwere Kriegszeit treu zu bleiben" und weiterhin zum Blatt zu stehen. Ähnliche Mitteilungen sind während den Kriegsjahren in diversen anderen Zeitungen mehrmals zu finden, wie zum Beispiel in der (Linzer) Tages-Post, der Arbeiter-Zeitung oder den Innsbrucker Nachrichten. Letztere zwangen die Produktionsschwierigkeiten dazu, am Wochenende statt drei Ausgaben nur noch eine herauszubringen, wie die „Schriftleitung u. Verwaltung" als genannte Absender verkündeten ( 5. Februar 1916, S. 5).

Nach 1920 entwickelte sich die Tageszeitung in der Ersten Republik Österreichs zum Leitmedium schlechthin. Im Vergleich zum Jahr 1910 erlebte die Gesamtzahl der herausgegebenen Zeitungen einen Anstieg von 18% und die Gesamtauflage stieg um 30% von 1,2 auf etwa 1,58 Millionen Exemplare (Melischek/Seethaler 2019, S. 9-11). Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Journalismus und ein Beispiel für „schwere Zeiten" der Presse(-freiheit) in Österreich ist mit dem Ende der Ersten Republik anzusetzen. Nach der Ausschaltung des Parlaments am 4. März 1933 und der Errichtung einer austrofaschistischen „Kanzler-Diktatur" unter Engelbert Dollfuß kam es erneut zu starken Einschränkungen, vor allem für sozialdemokratisch orientierte Blätter. Als „Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs", so der offizielle Titelzusatz, war die Arbeiter-Zeitung besonders betroffen. In der Interaktion mit dem Publikum lassen sich anhand der Phrase „an unsere Leser" Ergebnisse über diesen Umbruch im journalistischen Bereich finden. So richteten sich Redaktion und Verwaltung der Zeitung am 21. März 1933 an die Leserschaft und sprachen von den großen Anforderungen „an die sozialdemokratische Presse, aber auch an unsere Leser und Freunde". Angesichts der strengeren, häufigeren Konfiskationen habe sich „zwischen uns und unsere Leser der Herr Staatsanwalt eingeschoben". Die Kontrollmaßnahmen schränkten in diesem Sinne die Interaktion sowie die Beziehung zwischen der Zeitung und der Leserschaft stark ein und die Behörde stand zwischen ihnen. Am 26. März sprach die Redaktion explizit von „Vorzensur" und teilte der Leserschaft mit, dass sie von nun an versteckte Botschaften verstehen und „zwischen den Zeilen" lesen müsste (Abbildung 2). Abschließend rief sie mit dem Slogan „Jetzt erst recht!" einen Appell zur Unterstützung in dieser schwierigen Zeit und zur Treue zur Arbeiterklasse, zum Sozialismus sowie zur Arbeiter-Zeitung selbst auf. Etwa ein Jahr später, am 12. Februar 1934, wurde die Sozialdemokratische Partei verboten, sodass die Zeitung nur noch aus der Illegalität und aus dem Exil in Brünn erscheinen konnte (Melischek/Seethaler 2019, S. 25).

„Modernste Apparate": Technische und redaktionelle Veränderungen

Neben der Darstellung des Selbstverständnisses der Zeitung sowie rechtlichen und politischen Entwicklungen im Kontext der Zensur und Pressefreiheit sind Veränderungen in der Produktion zu nennen. Im Austausch mit der Leserschaft spielte die Kommunikation von technischen oder redaktionellen Veränderungen eine wesentliche Rolle. In dieser Hinsicht dienten Mitteilungen mit der Phrase „an unsere Leser" ebenfalls der Selbstinszenierung, der Schaffung von Transparenz oder der Herstellung von Nähe zum Publikum. Sie eignen sich besonders, um Erkenntnisse sowohl über den technologischen Wandel, als auch über journalistische Praktiken zu erlangen.

Die Stichworte „Post" und „erscheinen" treten häufig in Verbindung mit der technischen Infrastruktur der Zeitung oder der Publikation selbst auf. Besonders häufig sind es Unregelmäßigkeiten, Betriebsunfälle, Probleme oder Fehler in der Herstellung des Blattes oder im Transport und Vertrieb. Darüber hinaus kommt der sich überwiegend im Hintergrund befindliche Prozess der Produktion zum Vorschein. Zum Beispiel schrieben die Morgen-Post (20.12.) und Die Presse (23.12.) im Jahr 1862 als Ankündigung, dass sie in Zukunft neue und innovative Druckerpressen und daher eine verbesserte Produktion bieten könnten. Zusätzlich wird das häufig vernachlässigte Personal, etwa die Drucksetzer*innen, im Rahmen der Industrialisierung greifbar. Beispielsweise berichteten die Morgen-Post und die Neue Freie Presse im Februar und März 1870, die Arbeiter-Zeitung im Mai 1891 sowie diverse andere Blätter im Dezember 1913 von Streiks und Arbeitsniederlegungen. Deshalb kam es teilweise zu temporären Veränderungen im Erscheinen der Zeitung. In ähnlicher Weise betrifft dies die Einführung der 6-Tage-Arbeitswoche bzw. das Verbot von gewerblicher Sonntagsarbeit ab Juni 1885. Dieses beeinflusste folglich den Publikationsrhythmus der Zeitungen insofern, als die Montagsausgabe erst später herausgegeben werden konnte.

Redaktionelle Veränderungen lassen sich in der Botschaft und Adressierung „an unsere Leser" ebenso finden wie technische Erneuerungen und Umbrüche. Diese können jedoch nicht strikt getrennt betrachtet werden, sondern greifen stets ineinander und beeinflussen sich gegenseitig. So sind neben dem Fortschritt in der Druckerpresse andere technische Innovationen wie das Aufkommen der Fotografie zentrale Bereiche der redaktionellen Arbeit. Einen Einblick in die Hinterbühne der journalistischen Praxis lieferte Das Interessante Blatt. Als illustrierte Wochenzeitung setzte es bereits sehr früh auf Visualisierungen wie Zeichnungen oder Fotografien. Im Kontext der Balkankriege teilte die Redaktion den Leser*innen am 17. Juli 1913 mit, dass sie aufgrund des großen Interesses am Geschehen einen Kriegskorrespondent entsendet habe (Abbildung 3). Dieser sei der erfahrene Photograph Alois Meraner, welcher mit den „modernsten Apparaten" ausgerüstet nun Bilder und Berichte von den Kampfhandlungen bereitstellen würde. Die Darstellung mit einer Aufnahme inszeniert ihn in seiner Arbeitskleidung und mit seinen Geräten als professionellen, modernen Spezialkorrespondenten. Die Botschaft an die Leserschaft gibt damit einen Einblick in die Hintergründe des frühen Kriegs- und Fotojournalismus und weist gleichzeitig auf die Inszenierung des Blattes selbst hin. So möchte es sich als zeitgemäße, fortschrittliche Zeitung zeigen und verdeutlichen, dass sich dies auch in der Berichterstattung widerspiegelt.

Insgesamt werden inhaltliche Änderungen häufig mit der Phrase „an unsere Leser" kommuniziert. Weitere Anlässe sind etwa die Einführung einer neuen Rubrik, wie es zum Beispiel in der Illustrierten Kronen Zeitung am 28. November 1921 der Fall war. Hier wird kundgetan, dass das Thema „Volkssport" zu einer täglichen Rubrik aufgewertet wird. Dabei ist ersichtlich, wie äußere Umstände und gesellschaftliche Veränderungen wie etwa das Aufkommen der Sport- und Turnerbewegungen die thematische Aufbereitung der Zeitung prägten. Daneben sind Ortswechsel und neue Adressen sowie Kontaktdaten der Redaktion immer wieder in den Ergebnissen anzutreffen. Dies betont den Umstand, dass die Redaktion als Zentrum der journalistischen Praxis für die Interaktion mit den Leser*innen stets erreichbar und greifbar sein musste. Deshalb wurden Veränderungen im Inneren nach außen kommuniziert.

Mit Blick auf die Gegenwart ist hervorzuheben, wie die Praktiken der Interaktion weiterhin verfolgt werden. Für die Mitteilung von Veränderungen im Inneren der Redaktion und für die Leser-Blatt-Bindungen haben diese nach wie vor einen hohen Stellenwert. Zum Beispiel wandte sich der Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung Der Standard in der Frühphase der Corona-Pandemie in der Ausgabe vom 21./22. März 2020 an die Leser*innen (Abbildung 4). Er teilte mit, wie die „Krise" und der „Lockdown" die Zeitungsproduktion veränderten. Zwar wurde hier nicht mehr die Phrase „an unsere Leser" bemüht, dennoch beinhaltet die Botschaft ähnliche Aspekte wie die vorgestellten Beispiele: redaktionelle Veränderungen wie neue Rubriken (Kinderseite), die Standortänderung der Redaktion (ins dezentrale Homeoffice), das Selbstverständnis und die Blattlinie sowie Hinweise auf finanzielle Unterstützung. Das Beispiel zeigt die Kontinuitäten in der Entwicklung des Journalismus und die Relevanz der Interaktion zwischen Redaktion und Leserschaft. Nicht zuletzt geschieht die Hinwendung zum Publikum in einer außerordentlichen Zeit, in welcher sich die Produktion von Zeitungen fundamental veränderte und damit einen Meilenstein der Mediengeschichte bildet.

Die Interaktion der Redaktion mit der Leserschaft und die Phrase „an unsere Leser" beleuchten zentrale journalistische Strategien und Praktiken. Die Anlässe für die Hinwendung zum Publikum waren dabei sehr vielfältig: Es ging um den Aufruf zur Treue und zur Unterstützung in schwierigen Zeiten, während Kriegsphasen oder stärkerer Zensurmaßnahmen sowie um die Verlautbarung von technischen oder redaktionellen Veränderungen. Insofern können anhand dieser und ähnlicher Phrasen weitreichende Einblicke in das Innenleben der Redaktion und in die Hinterbühne der Zeitungsproduktion gewonnen werden. Damit rücken die vielfältigen politischen, rechtlichen, sozialen und technologischen Komponenten im Journalismus in den Vordergrund. In dieser Hinsicht kann ein besseres Bewusstsein für die Zeitung als komplexes gesellschaftliches Feld geschaffen werden: Es umfasst die Abhängigkeit von der industriellen Arbeitsteilung und der Leistungsfähigkeit der technischen Infrastruktur sowie deren Auswirkungen auf die sozialen Praktiken der inhaltlichen und redaktionellen Ebene. Digitale Zeitungsarchive liefern somit die ideale methodische Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Medien und Journalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Das Interessante BlattIllustrierte Kronen ZeitungInnsbrucker Nachrichten, 5. Februar 1916, S. 5. Salzburger Wacht, 29. Juli 1914, S. 2. Wiener Allgemeine Zeitung, 18. September 1880, S. 1, Abendblatt , 28. November 1921, S. 3. , 17. Juli 1913, S. 2.

Melischek, Gabriele/Seethaler, Josef (2016): Die Tagespresse der franzisko-josephinischen Ära, in: Matthias Karmasin/Christian Oggolder (Hrsg.), Österreichische Mediengeschichte. Band 1: Von den frühen Drucken zur Ausdifferenzierung des Mediensystems (1500 bis 1918), Wiesbaden, S. 167-192.

Melischek, Gabriele/Seethaler, Josef (2019): Die österreichische Tagespresse der Ersten Republik, in: Matthias Karmasin/Christian Oggolder (Hrsg.), Österreichische Mediengeschichte. Band 2: Von Massenmedien zu sozialen Medien (1918 bis heute), Wiesbaden, S. 7-36.

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