Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 48/2022.
Gnadenlos hämmert der Husten meiner Freundin auf mein Trommelfell. Wie lange geht das schon so? 15 Minuten, zwei Stunden? Ich weiß es nicht, weiß nur, dass ich nicht mehr einschlafen werde. Ich steige aus dem Bett und tappe barfuß in Richtung Küche, reiße das Fenster auf, ziehe mein Schlafshirt über den Kopf, und als die kalte, frische, feuchte Luft hereintritt, meine Haut sich strafft und die Haare sich aufrichten, denke ich: Benjamin Franklin, Miterfinder der amerikanischen Demokratie und des Blitzableiters - sein Genie muss etwas mit diesem Gefühl zu tun haben.
Seit ich denken kann, habe ich Schlafprobleme. Das Einschlafen fällt mir nie schwer, aber von etwa vier Uhr morgens an liege ich hellwach im Bett. In einem Netz von Gedanken hetze ich umher, verheddere mich, stolpere. Wieder und wieder versuche ich, mich daraus zu lösen, aber es gelingt mir nicht. Stunden vergehen, bis ich erschöpft in den Schlaf falle oder der Wecker klingelt.
Es war mir immer klar, dass Millionen andere das gleiche Problem haben, kein Grund, eine große Sache daraus zu machen. Bis mir ein Roman die Augen öffnete. Das Buch heißt Harlem Shuffle, geschrieben vom Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead. Im Harlem der Sechzigerjahre, einer dreckigen Welt voller Zuhälter und Kleinganoven, versucht ein gewisser Ray Carney sauber zu bleiben. Deshalb studiert er. Ein Professor der Betriebswirtschaft erklärt ihm, wann die beste Zeit für die Buchführung sei: Sein Vater habe die "mitternächtliche Mußestunde bevorzugt". Vor der Erfindung der Glühbirne sei es nämlich üblich gewesen, in zwei Etappen zu schlafen. Die erste begann kurz nach der Abenddämmerung, denn: "Wenn es kein Licht gab, (...) welchen Sinn hatte es dann, aufzubleiben?" Nach vier Stunden wurde man von einem inneren Wecker aus dem Schlaf geholt - für etwa zwei Stunden, dann legte man sich wieder hin und schlief bis in den Morgen durch.
Kann das, was ich da las, wirklich wahr sein? Ich begann zu recherchieren. Im Internet stieß ich auf einen Historiker namens Roger Ekirch und auf einen Aufsatz, den er 2001 veröffentlicht hatte: Sleep we have lost. Darin berichtet Ekirch, er habe Hunderte Tagebücher, Romane und Zeitungsartikel aus der vorindustriellen Zeit ausgewertet und dabei immer wieder Hinweise auf den zweiphasigen Schlaf gefunden.
Die Stunden dazwischen nannten die Briten the watch, die Franzosen dorveille, ein Kofferwort, das so viel wie "Wachschlaf" bedeutet. Dieser dorveille galt als Zeitfenster der Muße, der Fantasie. In Cervantes' Don Quijote beschimpft der Held einmal seinen treuen Knappen Sancho Panza, weil der in einem Stück durchschlafe - und nicht, wie allgemein üblich, nach dem "ersten Schlaf" aufwache, um mit seinem Don die großen Fragen der Menschheit zu diskutieren. Benjamin Franklin soll mitten in der Nacht "kalte Luftbäder" genommen haben - eine schöne Art, auszudrücken, dass er nackt am offenen Fenster saß -, um dann mit frischem Kopf an Erfindungen zu tüfteln. Andere hatten zwischen Schlaf und Schlaf einfach Sex.
In meinem Kopf wuchs ein Gedanke: Kann es sein, dass in Wirklichkeit nicht mein Schlaf gestört ist, sondern die Gesellschaft, in der ich lebe? Die Elektrizität, Botin der Moderne, die dem Menschen Licht brachte, den und Internetpornos, hatte sie die Tür zugeschmettert zur mystischen Welt des dorveille?
Mein Körper jedenfalls schien auf den zweiphasigen Schlaf programmiert zu sein. Anders als Franklin oder Don Quijote wachte ich zwar nicht um Mitternacht auf, sondern vier Stunden danach, ich ging jedoch auch später zu Bett. Wenn ich aufhörte, meine Wachheit als Feindin zu betrachten, und sie stattdessen als Freundin sähe - würde sie mich bei der Hand nehmen und einem anderen Bewusstseinszustand zuführen?
Drei Uhr morgens, meine erste dorveille- Nacht. Um elf bin ich ins Bett gegangen, wie immer. Nach einem franklinschen Luftbad sitze ich am Küchentisch. Was nun? Ich beschließe, mich in dieser neuen, mir fremden Welt zunächst langsam vorzutasten. Erst einmal will ich verstehen, was in mir vorgeht. Die kalte Luft hat meine Hirnwindungen durchlüftet, und doch sind meine Arme, meine Beine wie betäubt. Müdigkeit und Wachheit verschwimmen zu einem diffusen Zustand. Ich schließe die Augen, höre, wie der Wind durch die Baumkrone rauscht. Keine schreienden Kinder, die im Hof toben. Keine scheppernde Waschmaschine in der Nachbarwohnung. Wäre da nicht das leise Brummen des Kühlschranks, es gäbe nur die Klänge der Natur. Nach einer Stunde zwitschern die ersten Vögel, noch vereinzelt, eine zaghafte Ankündigung des beginnenden Tages. Die Welt erwacht, ich torkele ins Bett, müde - und zufrieden.
Um zehn Uhr vormittags wache ich auf. Ausgeschlafen wie lange nicht. Zur Mittagszeit sitze ich in meinem Büro. Auf dem Laptop lese ich weiter in Ekirchs Aufsatz, es geht um ein Experiment des Schlafforschers Thomas Wehr Anfang der Neunzigerjahre. Einer Versuchsgruppe wurde für längere Zeit elektrisches Licht entzogen, 14 Stunden täglich verbrachte sie in völliger Dunkelheit. Die Probanden entschieden selbst, wann und wie lange sie schlafen wollten. Nach einem Monat stellte sich ein zweiphasiger Schlaf ein. Die Versuchspersonen berichteten von großer Entspanntheit, einem Gefühl wie während einer Meditation. Wehr stellte bei ihnen ein erhöhtes Prolaktin-Level fest - ein Hormon, das bei Frauen die Milchproduktion anregt und auch vermehrt nach einem Orgasmus ausgeschüttet wird; bei anderen Säugetieren sorgt es für Brutpflegeverhalten.
In der darauffolgenden Nacht bin ich ein Kind. Ich sitze an einem See und blättere in einem Autoquartett. Als die Spielkarten verschwimmen, wache ich auf. Das Handydisplay zeigt 03:28 Uhr. Küche, Fenster auf. Der Wind ist dieses Mal stärker, ein dunkles Dröhnen. Ich schlüpfe in meine Jacke. Dann geht es raus in die Nacht.