Am Abend des 28. April 2021 erreicht ein Notruf die Polizeileitstelle Potsdam. Mann am Telefon: "Ja, wie soll i dette jetz am besten erklären?"
Polizist: "Einfach frei von der Leber weg."
Mann: "Meine Frau kam voll durch den Wind von der Arbeit. Völlig psychotisch. Dann hat sie mir erklärt, dass sie jemandem die Kehle durchgeschnitten hat."
Polizist: "Was?"
Mann: "Hab bei denen auf der Arbeit angerufen, die haben das selbst gar ned gemerkt. Ich hab sie gebeten, aufs Zimmer zu schauen. Es scheint zu stimmen."
Polizist: "Wo arbeitet Ihre Frau denn?"
Mann: "Im Oberlinhaus ... Ich zittere am ganzen Körper."
Polizist: "Welche Station?"
Mann: "Thusnelda-von-Saldern-Haus."
Polizist: "Achten Sie bitte auf Ihre Frau, dass sie sich nicht wäscht und ihre Sachen nicht wechselt. Ich schicke Ihnen dann die Kollegen hin. Alles klar, Herr R.?"
Sieben Monate nach diesem Anruf, Ende November, betritt der Mann, der Thimo R. heißt und 57 Jahre alt ist, den Gerichtssaal. Er winkt kurz in Richtung Anklagebank, doch seine Frau verzieht keine Miene. Starr blickt Ines R. geradeaus, ihre Augen bleiben so leer und ausdruckslos, wie sie es bisher über alle Prozesstage hinweg waren. Diese 52-jährige Frau, über die alle Zeugen sagen, sie sei vielleicht ein wenig wortkarg gewesen, aber immer liebevoll, zuvorkommend und aufopfernd; die vielleicht etwas empfindlich auf Geräusche reagierte, wenn das Radio mal wieder zu laut aufgedreht war - diese Frau soll vier ihrer wehrlosen Schutzbefohlenen, Menschen mit schweren Behinderungen, ermordet haben. Ein fünfter schwebte in Lebensgefahr.
Ihre Leutchen, wie sie sie nannte.
Der Prozess, der dieser Tage in verhandelt wird, dreht sich nicht nur um eine Frau, die Amok gelaufen ist, sondern auch um die miserablen Bedingungen in der Pflege. Er offenbart, dass auch eine kirchliche Einrichtung wie das Oberlinhaus, "das diakonische Kompetenzzentrum für Teilhabe, Bildung und Arbeit", bei Kontrollen stets mit Bestnoten ausgezeichnet, schwere strukturelle Probleme hat.
Was genau an jenem Abend im Thusnelda-von-Saldern-Haus passiert sein soll, verliest die Staatsanwaltschaft zu Beginn des ersten Prozesstages. Kurz nach 20 Uhr betritt Ines R. offenbar das Zimmer von Christian S. Sie würgt ihn, bis er sich nicht mehr bewegt. Anschließend geht sie in das Zimmer von Maria W., die sie ebenfalls würgt, bis sie aus dem Ohr blutet. Anscheinend begreift R., wie mühsam es ist, Menschen zu erwürgen. Sie verlässt die Station und begibt sich zum Umkleideraum. Auf dem Weg begegnet sie einer Kollegin. Sie wolle "schnell Zigaretten holen", sagt R. "Völlig unauffällig" sei sie gewesen, wird die Frau bei der aussagen. Aus dem Schließfach holt R. ein giftgrünes Keramikmesser. Sie geht zurück auf die Station, in das Zimmer von Lucille H., der sie die Halsschlagader durchtrennt. Danach kehrt sie zurück zu den verletzten Christian S. und Maria W. - und tötet beide mit dem Messer. Dann ist Andreas K. dran, nur Elke T. überlebt K.s Halsschnitt auf der Intensivstation. Die Anklage lautet: Vierfacher Mord bei möglicherweise erheblich verminderter Schuldfähigkeit.
Die Opfer waren schwerbehinderte Erwachsene, die schon viele Jahre in Pflegeeinrichtungen untergebracht waren. Die 42-jährige Lucille H. war seit einem Autounfall acht Jahre zuvor völlig gelähmt und konnte nur noch ihre Augen öffnen. Der 35-jährige Christian S. war seit seiner Geburt blind. Seine Mutter erzählte vor Gericht, wie sehr er das Rascheln des Laubes geliebt hatte. Die Schwester von Andreas K. sagte aus, dass er immer den Daumen hob, wenn man ihn fragte, ob "alle lieb zu ihm seien".
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