Bei langen Autofahrten, immer und immer wieder, nerven Kinder ihre Eltern mit der Frage: „Wie weit ist es denn noch?" Die sechsjährige Karla wollte das nie wissen. Sie schaute aus dem Fenster und wartete einfach ab. Und wenn sie in der Ferne den Gasometer aufragen sah, der wie eine Krone über ihrem Stadtteil aufragte, dann wusste sie, dass es nicht mehr weit sein konnte, bis sie endlich zu Hause war.
Karla, heute 27 Jahre alt, geboren in Berlin, sagt: „Es ist die Skyline meiner Kindheit." Sie kann nicht verstehen, dass ein Investor diese einzigartige Struktur, diesen Blick auf den Himmel zerstören will. Sie findet: „Das ist doch eine besondere, unverwechselbare Architektur, das kann man doch nicht einfach mit einem Klops auffüllen."
Der „Klops", das ist ein Bürohaus, das die Deutsche Bahn in das kesselförmige, 78 Meter hohe Stahlgerüst des Gasometers in Schöneberg setzen will. Geht es nach dem Willen des Investors Reinhard Müller, soll der DB-Turm statt 57 Meter, wie ursprünglich im Bebauungsplan vorgesehen, 71 Meter hoch werden - obwohl der Denkmalschutz bisher die Pläne ablehnt. Diese 14 zusätzlichen Meter sollen für 1200 mehr Arbeitsplätze sorgen. Es heißt, die DB habe den Zuschlag nur deswegen an Müller gegeben, weil es eine Chance gab, den Gasometer auszufüllen.
Dann aber wären nur noch sieben Meter frei bis zum obersten Rand des Gerüsts. Der Gasometer wäre ein bis oben hin befüllter Kessel. Die 14 Meter könnten zum berühmten Tropfen werden. Der Kessel droht überzulaufen.
Doch es geht um viel mehr in diesem Streit, um etwas, was sich nicht in Metern messen lässt. Die Anwohner wollen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des wichtigsten und größten Gebäudes in ihrem Kiez.
Fast 10.000 UnterschriftenIn Berlin ist das Viertel rund um den Gasometer als „Rote Insel" bekannt. Hier wurde traditionell SPD, wurden später die Grünen gewählt, hier sprechen sich die Menschen an, und wenn jemand traurig aussieht, fragt man, ob er oder sie Hilfe brauche. Wie auf dem Dorf, sagen Anwohner, sei es hier. Auch Karla hat sich, nachdem sie daheim ausgezogen ist, wieder eine Wohnung hier in der Gegend genommen. Wenn sie vor die Haustür tritt, sieht sie sofort den Gasometer. Noch hat die Krone lange Zacken.Fast wie das Colloseum in RomBekannt ist der Bau nicht nur in Berlin, ganz Fernsehdeutschland kennt ihn, seit Günther Jauch mit seiner Abendtalkshow in eine Kuppel im Fuß des Gasometers einzog. Johannes Ziegler sagt: „Der Gasometer ist ein Stück Schöneberger Identität."
Der 60-Jährige setzt sich für die Bürgerinitiative „Gasometer retten" ein. Fast 10.000 Unterschriften haben sie mittlerweile für den Erhalt der Struktur gesammelt. Als sichtbares Zeichen ihres Widerstands hat er einen Siebdruck des lokalen Künstlers Wolfgang Leonhard dabei. Man kann auf Taschen drucken oder nur auf Papier. Auf diesem Siebdruck sieht der Gasometer fast aus wie das Colloseum in Rom.
Die raue Fassade des Industriedenkmals habe eine ungeheure Anziehungskraft, sagt Zerger, locke Kreative in das Viertel. Wird er bebaut, wäre er dann nicht mehr wiederzuerkennen. „Auf Biegen und Brechen" setze das Bezirksamt Investoreninteressen durch. Allen voran gingen dabei die Grünen. „Ausgerechnet" die Grünen. Dabei sei die Partei bei der letzten Wahl mit dem Versprechen angetreten, den Gasometer nicht zu bebauen. Als Grünen-Stammwähler sei Zerger sehr enttäuscht. „Ich muss sie ja nicht wieder wählen."
Es war das Jahr 2007, als die rot-schwarze Vorgängerregierung des Bezirks Tempelhof-Schöneberg dem Investor Müller den Zuschlag für das ehemalige Gelände des Energieanbieters Gasag gab, auf dem das Gasometer steht. Müller hatte sich zuvor einen Namen gemacht, indem er sich mit der von ihm gegründeten Stiftung Denkmalschutz daran beteiligt hatte, das Brandenburger Tor und das Strandbad Wannsee zu sanieren. Jetzt wollte er das Industriegelände in eine Smart City verwandeln: in den Euref-Campus, kurz für „Europäisches Energieforum".
Der Plan klingt ambitioniert: ein klimaneutrales Gelände mit nachhaltigen Start-ups und einem Forschungszentrum im Herzen des Gasometers. Mit Strom aus Biomethan versorgte Kreativräume inmitten von klinkersteinroten Industrie-Baracken. Ein Ort, an dem alte und neue Wege der Energieerzeugung symbolisch aufeinanderprallen.Bitte nicht noch ein Potsdamer PlatzIm angrenzenden Kiez formierte sich schnell Widerstand gegen das geplante Projekt. 2009 gründeten Anwohner die „BI Gasometer". Die Vorgänger-Initiative von „Gasometer retten" fürchtete vor allem, der Campus würde zu dicht und zu hoch mit Bürotürmen bebaut werden. Der Euref-Campus drohe ein Ort wie der Potsdamer Platz zu werden: Menschenmassen, die jeden Morgen zur Arbeit kommen, am Abend menschenleer. Die hohen Häuserfronten würden zudem den Cheruskerpark verschatten, der direkt neben dem Gelände liegt. Außerdem forderte die Bürgerinitiative, das Gelände für alle zugänglich zu machen. Bereits damals gab es Sorgen, es könnte zu einer Gated Community werden, die sich in den angrenzenden Kiez hineinfressen würde.
Der Gasometer steht heute dafür, wie Politiker und Investoren mit Wählern und Kiezbewohnern umgehen. Und dafür, wie die Stadt mit dem Platz umgeht, den sie zur Verfügung hat für Wohnraum und für Parks.
Umzäunter CampusEs gibt Viertel wie rund um die Mercedes-Benz-Arena, wie am ehemaligen Mauerstreifen am Spittelmarkt oder rund um den Flughafen Schönefeld. Sie sind lieblos geplant und fühlen sich leblos an. Das liegt nicht nur an Corona, aber es bleibt schon die Frage, warum in Zeiten, in denen viele Menschen die Vorzüge des Homeoffice zu schätzen lernen, noch mehr Platz für Bürogebäude eingeräumt wird.
Seit die Pläne für den Gasometer feststehen, sei die Stimmung am Kiez sehr gereizt, sagt der Grünenpolitiker Jörn Oltmann. Neulich habe er Aufkleber gesehen, auf denen „Oltmann, nein danke" geschrieben stand. „Stellen sie sich vor, meine Tochter geht spazieren und sieht das!" Er sei zur Projektionsfläche der Bürgerinitiative geworden. Diese behaupte, er habe seine Meinung zum Euref-Campus grundsätzlich geändert. Dabei sei es schon in Oppositionszeiten die Position der Partei gewesen, einen „Standort zum Thema Energie" grundsätzlich zu unterstützen.
Gegensätze lassen sich durch die Begegnung auflösen
Jörn Oltmann (Grüne)
Wie die Bürgerinitiative hätten er und seine Partei aber die Intensität des Projekts kritisiert. 163.000 Quadratmeter Nutzfläche seien dem Investor im Bebauungsplan von 2009 zugesprochen worden. „Viel zu viel", sagt Oltmann. Er sei für eine Reduktion gewesen. Gegen die politischen Mehrheiten von damals habe sich seine Partei aber nicht durchsetzen können.
Nachdem Müller begonnen hatte, auf dem ehemaligen Gasag-Gelände zu bauen, waren immer wieder Negativmeldungen in den Medien zu lesen: 2009 verkündete das Euref, die geplante Energie-Universität werde vorerst nicht kommen. Der Start der Uni wurde immer weiter aufgeschoben. Vor allem sind dagegen Büros auf dem Campusgelände entstanden. Die Bürgerinitiative deutet diese Entwicklungen so, als sei es Müller von Anfang an weniger um Klimaschutz als um Profit gegangen.
Müller hat selbst 1975 auf der „Roten Insel" gelebt, er hat selbst - wie er zumindest über die Euref-Pressestelle ausrichten lässt - einen emotionalen Zugang zum Gebäude. Sprecherin Karin Teichmann sagt: „Uns selbst hat der Gasometer 2008 das Thema für den Euref-Campus vorgegeben." Müller wollte, dass an einem solchen Energiestandort auch zukünftig rund um Energiethemen geforscht und gearbeitet wird. „Es war dabei von Anfang an beabsichtigt, den Gasometer auch wieder wirtschaftlich nutzbar zu machen - und so seinen Bestand für die Zukunft zu sichern."
Kann es also sein, dass die Struktur dadurch gesichert wird, dass sie wirtschaftlich nutzbar wird? Hätte sie sonst abgerissen werden müssen?
Im Jahr 2016 wurde in Tempelhof-Schöneberg eine neue Bezirksverordnetenversammlung gewählt - und Jörn Oltmann, der Grünenpolitiker, der bisher als Kritiker Müllers wahrgenommen wurde, erhielt das Amt als stellvertretender Bürgermeister. Im Sommer 2020 berichteten mehrere Zeitungen, dass Müller nun auch das Gasometer bebauen wolle. Oltmann unterstütze die Pläne. Oltmann spricht von einem „Deal mit dem Investor".
Er öffnet eine Powerpoint-Präsentation und stellt seine Rechnung vor: Es sei ihm gelungen, die 2009 veranschlagte Fläche um mehrere Tausend Quadratmeter reduzieren: von 163.000 auf 135.000. Würde Müller sein Recht durchsetzen, hätten Abrisse und Neubauten gedroht, sagt Oltmann. Außerdem habe man Müller dazu gebracht, auf den Bau einer Straße zu verzichten. Die angrenzende Teske-Schule, die als Grundschule bald wiedereröffnet werden soll, bekomme somit mehr Raum. Im Gegenzug darf Müller im Gasometer höher bauen. Es sei ihm also gelungen, „für den Kiez noch etwas rauszuholen", so sieht es Oltmann.
Für die Grünen mit ihrer von Protest geprägten Geschichte ist das Multikulti-Kiez-Leben eigentlich Teil der Partei-DNA. Andererseits ist auch der Euref-Campus eine grüne Welt - wenn auch auf eine ganz andere Weise: Start-ups, Tesla und Chai Latte. Die Seite des „Kapitals", so würde es die klassenkämpferische Linke formulieren. Und doch braucht es grünes Unternehmertum für den ökologischen Wandel. Die Frage ist: Wie erhalten sich die Grünen den Ruf als kieznahe Partei, während sie zugleich ein so elitär anmutendes Projekt unterstützen? Oltmann glaubt, dass sich die beiden Welten miteinander vereinen lassen. Wenn die Pandemie einmal vorbei ist, könnten die Anwohner die vielen Gastronomie-Möglichkeiten hier nutzen. „Gegensätze lassen sich durch die Begegnung auflösen", sagt er. Oben im Gasometer soll in einer Glaskuppel eine Skylounge entstehen. „Wer aktuell den Blick vom Gasometer genießen will, kann eine Führung buchen, um über die Leitern nach oben zu klettern. Das wird in Zukunft sehr viel komfortabler."
Johannes Zerger von der Bürgerinitiative hingegen bezweifelt, dass Alt und Neu hier jemals zusammenwachsen könnten. Überhaupt glaubt er nicht daran, dass Investor Müller jemals vorgehabt hatte, aus dem Campus eine Begegnungsstätte zu machen. Er erzählt von einer Betreiberin eines kleinen Theaters in der Nachbarschaft, die vorgeschlagen hatte, ein Stück auf dem Campus aufzuführen. Die von der Euref veranschlagten Kosten für Miete und Catering seien aber so hoch gewesen, dass es für das Theater nicht finanzierbar war.
Man kann das Gelände nicht ohne Anmeldung betreten. Der gesamte Campus ist umzäunt und videoüberwacht, an den Toren kommt man nur mit einem elektronischen Schlüssel hinein. Offiziell, sagt Zerger, werde mit Fällen von Vandalismus durch die Anwohner argumentiert, man müsse die teuren Maschinen der Unternehmen auf dem Campus schützen. Dadurch sei es aber letztlich so gekommen, wie es die Bürgerinitiative von Anfang an befürchtet hatte: Eine Gated Community sei mitten auf dem Kiez entstanden. Auch die geplante Skylounge gehe „meilenweit an der Lebenswirklichkeit der Menschen im Kiez vorbei", sagt Zerger. Voraussichtlich viel zu teuer.
Wie geht es nun weiter? Bis Ende Mai will das Bezirksbauamt die abgegebenen Stellungnahmen durchsehen. 731 Bürgerinnen und Bürger haben, nachdem sie den Bebauungsplan sichten konnten, ihre Meinung dazu aufgeschrieben und Anregungen gegeben. Mehr als die Hälfte der Stellungnahmen waren offenbar in einem grundsätzlich zustimmenden Tenor verfasst. In den Medienberichten wurde teilweise suggeriert, die Anwohner hätten für die Gasometer-Bebauung gestimmt. Dem widersprechen die BI-Mitglieder stark. Nur sehr vereinzelt stoßen sie auf Kritik vonseiten der Anwohner, wenn sie Aktionen für den Erhalt des Gasometers durchführen. Ihnen werde vorgeworfen, gegen den Fortschritt zu sein.
Müller gilt ja als denkmalaffiner Mensch
Christoph Rauhut vom Denkmalschutz
Der angepasste Bebauungsplan geht im Sommer an die Bezirksverordnetenversammlung, die Anfang August darüber abstimmt. „Auch wir als Denkmalamt haben eine Stellungnahme abgegeben", sagt Landeskonservator Christoph Rauhut. Weiter gehe der Einfluss der Behörde aber nicht. Die Politik müsse dann zwischen ökonomischen Interessen und Denkmalschutzbelangen abwägen. „Dass jetzt aber noch höher gebaut werden soll, das kann ich nicht nachvollziehen", sagt der Denkmalschützer.
Dennoch glaube er, dass sich der innere Ausbau des Gasometers auf 71 Meter nicht mehr aufhalten lässt: Müller, SPD-Mitglied, hatte schon Frank-Walter Steinmeier auf den Campus eingeladen. Er sei gut vernetzt. Er wisse, den Rahmen abzustecken, um seine Interessen durchzusetzen. Das sei schade, sagt Rauhut: „Ich hätte mir gewünscht, dass Müller in einen Dialog eingetreten wäre. Er gilt ja als denkmalaffiner Mensch."
Karla jedenfalls möchte nicht, dass diese Gegend irgendwann so „tot" ist, wie die Einkaufsstraßen rund um die Friedrichstraße. „Mir ist schon klar, dass sich eine Stadt weiterentwickeln muss", sagt sie, „aber deswegen muss eine Gegend nicht an Charme verlieren."
Sie hat für die Bürgerinitiative ein Lied gesungen und es auf der Instagram-Seite verlinkt. Darin singt sie davon, wie man „im Finstern" auf die Stadt herabschaut. Der Gasometer wird zwar nicht mit Namen erwähnt, aber es ist klar, was sie meint, wenn sie davon singt, „Mauern klein zu machen". Dann dazu aufruft: „Und komm, wir gehen den Weg zusammen."
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