Was die Geistlichen sahen, als sie Grosse Isle betraten, ließ sie wohl an das Jüngste Gericht denken: "Sie liegen am Strand, kriechen durch den Schlamm und sterben wie Fische ohne Wasser", schrieb der irische Priester Bernard McGauran. Mit Glaubensbrüdern hatte man ihn 1847 auf die kleine Insel an der Küste vor Quebec geschickt, um zu helfen. Auf der Quarantäneinsel saßen Tausende Iren fest, die vor der Großen Hungersnot in ihrer Heimat geflohen waren und nach Kanada wollten.
Schon bei der Überfahrt über den Atlantik hatten sie sich mit der Fieberkrankheit Typhus angesteckt, die sich auf Grosse Isle nun unkontrolliert ausbreiten konnte. Ein anderer Priester fasste ihre Lage so zusammen: "Es wäre menschlicher gewesen, eine Truppe aus Quebec zu schicken, die die Schiffe versenkt, als diese Leute auf solch eine furchtbare Weise sterben zu lassen."
Gut 170 Jahre ist das her, und seitdem geriet das Wort Quarantäne in Europa und Nordamerika allmählich in Vergessenheit - bis zur Corona-Pandemie. Der medizinische Fortschritt, vor allem Impfungen und Antibiotika drängten Seuchen in der westlichen Welt so stark zurück, dass es heute höchst befremdlich wirkt, wenn ganze Städte oder Regionen von der Außenwelt abgeschnitten werden.
Dabei haben Maßnahmen zur Isolierung von Kranken eine jahrhundertelange Geschichte, zuerst zur Eindämmung der Pest: "Die Bedeutung des Handels ging den Ärzten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit schnell auf", schreibt der Historiker Franz Mauelshagen. "Auch ohne das Wissen und die Möglichkeiten der Mikrobiologie begriffen sie, dass die Pest vor allem über die großen Handelszentren nach Europa verschleppt und von dort weiterverbreitet wurde."
Eine besonders skurrile Rolle kommt dabei den Quarantäneinseln zu, die häufig vor den Küsten großer Metropolen eingerichtet wurden. So verbannte New York Schwerkranke auf North Brother Island, eine Insel im East River (siehe Fotostrecke). Die Naturschönheiten wurden zu Schauplätzen apokalyptischer Szenen, weil man Todkranke dort isolierte, um die Bevölkerungsmehrheit vor ihnen zu schützen.
Wer auf einer dieser oft winzigen Inseln landete, wurde zum totalen Aussätzigen. Jeder rang dort allein um sein Leben. Das Meer war fortan eine unüberwindbare Barriere zur Gesellschaft, zu Familie und Freunden. Dicht gedrängt mit Menschen, die dasselbe Schicksal teilten, wartete man häufig bar jeder Hoffnung nur noch auf den Tod.
Die Zustände auf Grosse Isle waren auch deshalb so miserabel, weil Gesunde und Kranke einfach zusammengesperrt wurden. Dabei wusste man schon während des Pestausbruchs in Venedig 1468, dass dies auch für gesunde Menschen den sicheren Tod bedeuten musste - und führte ein damals revolutionäres System ein: Man trennte die Kranken von den Verdachtsfällen.
Zuvor hatte die Lagunenmetropole schon 120 Jahre gegen den Schwarzen Tod gekämpft. Als 1348 die Pest in Venedig ausbrach, breitete sie sich auf dem ganzen Kontinent aus. Zehntausende Venezianer starben, Millionen Europäer. Bei folgenden Pestepidemien gingen die Stadtoberen immer neue Wege, um die Seuche aufzuhalten: Zunächst wurden Kranke zum Sterben auf die Inseln vor der Stadt gebracht. 1374 wurde zusätzlich verfügt, dass Kaufleute und Seeleute auf ihren Schiffen eine Weile im Hafen von Venedig verharren mussten, bevor sie die Stadt betreten durften. Man nahm also eine Inkubationszeit an, ohne bereits ein wissenschaftliches Verständnis davon zu haben.
Beim Ausbruch 1468 installierten die Stadtoberen schließlich ein Quarantänesystem, das zwischen sicher und vielleicht Erkrankten unterschied. Die quadratförmige Insel Lazzaretto Vecchio, so groß wie zwei Fußballfelder, wurde zur Sterbeinsel der Kranken. Die Menschen unter Pestverdacht kamen auf die neu eingerichtete Lazzaretto Nuovo im Nordosten. Dort mussten sie 40 Tage verweilen - und durften danach in die Stadt zurückkehren, sofern sie ohne Symptome blieben. Wer die strengen Isolationsregeln brach, musste mit harten Strafen rechnen, bis hin zum Tod.
Ein Trennsystem hätte vermutlich auch die Situation auf Grosse Isle 400 Jahre später entschärfen können. In Venedig wurde die Quarantäne für Verdachtsfälle auf genau 40 Tage festgelegt, obwohl die Ansteckungszeit der meisten Krankheitserreger deutlich kürzer ist. Der Grund war möglicherweise ein religiöser: Sowohl Jesus als auch Moses hatten sich der Bibel zufolge 40 Tage in die Wüste zurückgezogen. Und von der Zahl 40 - italienisch "quaranta" - leitet sich der Begriff der Quarantäne ab.
Auch die Lepra gehörte zu den verheerenden Seuchen des Mittelalters. Starben Pestinfizierte binnen wenigen Tagen, lebten Leprakranke über Jahre am Rande der Gesellschaft. Weil Geschwüre den ganzen Körper befielen, sah man den Betroffenen die Krankheit auf drastische Weise an. Sie hatten häufig offene Wunden, die unbehandelt blieben und sich entzündeten, weil die Kranken ihr Schmerzgefühl verloren hatten. Das konnte dazu führen, dass Körperteile abstarben - daher die falsche Vorstellung, Leprakranke verlören ihre Gliedmaßen.
Obwohl Lepra nicht sonderlich ansteckend ist, führte dieses Erscheinungsbild zur Ächtung der Infizierten. Sie mussten die Städte verlassen und kamen in sogenannten Leprosorien unter - Häusern, in denen die Kranken unter sich blieben. Fortan waren sie Ausgestoßene und galten als "bürgerlich tot", ihre Ehen als aufgelöst, der Besitz der Aussätzigen fiel an Verwandte oder die Kirche.
In Europa trat Lepra nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 immer seltener auf. Dennoch entschied sich die Regierung der Ägäis-Insel Kreta noch 1903 (als dort für 15 Jahre ein Kretischer Staat existierte), auf Spinalonga ein Leprosorium zu errichten. Bis dato lebten auf der kleinen Insel vor Kretas Ostküste vor allem Muslime, die gezwungen wurden, ihre Siedlungen zu verlassen.
Etwa 300 Leprakranke mussten in die leeren Häuser einziehen. Umgeben vom azurblauen Meer, wurde die hügelige Insel mit prallen Olivensträuchern zum verwahrlosten Slum ohne staatliche Ordnung oder Medikamente. Erst in den Dreißigerjahren verbesserte sich die Situation etwas, nachdem Ärzte, Priester und Reinigungskräfte auf die Insel gelassen und neue Gebäude errichtet wurden. Als 1957 ein wirksames Antibiotikum gegen Lepra entwickelt wurde, schloss mit Spinalonga eines der letzten Leprosorien in Europa. Heute ist die Insel bei Kreta-Urlaubern als Lost-Place-Tagestrip beliebt.
Ein ganz besonderer Quarantänefall ist Gruinard Island im Nordwesten Schottlands: Hier wurden nicht Kranke abgeschottet - die Zwei-Quadratkilometer-Insel musste selbst in Quarantäne. Denn im Zweiten Weltkrieg experimentierten britische Wissenschaftler im Auftrag der Regierung mit Biowaffen. Rund 80 Schafe auf Gruinard Island wurden dem auch für Menschen tödlichen Milzbranderreger ausgesetzt, alle Tiere starben binnen drei Tagen.
Obwohl die Kadaver sofort verbrannt wurden, stellten Wissenschaftler noch 1979 fest, dass der Boden auf Gruinard mit Milzbrandsporen verseucht war. Die britische Regierung verbot daraufhin, die Insel zu betreten. Einige Jahre später wurde die Vegetation auf verseuchtem Gelände mit Unkrautbekämpfungsmitteln vernichtet und verbrannt; außerdem versuchte man, den Boden mit Hunderten Tonnen Formaldehyd, gelöst in eingeleitetem Meerwasser, zu "desinfizieren".
Offiziell gilt Gruinard seit 1990 wieder als bewohnbar. Aber das Restrisiko durch Anthraxsporen, die extrem beständig und widerstandsfähig sind, wollte noch niemand auf sich nehmen - bis heute ist die nah am Festland liegende Atlantikinsel unbewohnt.