Am verregneten, windigen Samstagnachmittag des 10. Oktobers 1981 muss Helmut Schmidt geschwant haben, dass seine Kanzlerschaft wackelte. Nur 20 Fußminuten vom Bundeskanzleramt den Rhein hinunter drängten sich im Bonner Hofgarten gut 300.000 Menschen und demonstrierten gegen seine Rüstungspolitik. Der Schriftsteller Heinrich Böll und Martin Luther Kings Witwe Coretta Scott King hielten Reden, ebenso Sozialdemokraten wie Erhard Eppler.
Damit wandte sich eine linke Avantgarde gegen einen Regierungschef, der einer durch linke Traditionen geprägten Arbeiterpartei vorstand. Schmidt hatte die Wirtschafts- und die Ölkrise ebenso überstanden wie den Terror der RAF und die Proteste von Atomkraftgegnern. Den Rückhalt verlor er letztlich durch den Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979.
Die Demonstration im Bonner Hofgarten zählte zu den Höhepunkten der Friedensbewegung. Protesten gegen das Wettrüsten zwischen Ost und West schlossen sich Anfang der Achtzigerjahre Millionen in Deutschland an - auch der Fußballer Ewald Lienen. Als die Nato-Staaten den Doppelbeschluss in Brüssel ratifizierten, war er 26 und kickte mit wehender Mähne für Borussia Mönchengladbach.
Bei den Friedensdemos sei es vor allem um zwei Dinge gegangen, erinnert sich der heutige technische Direktor beim FC St. Pauli: um "den Wahnsinn, dass alles verschwinden kann, wenn jemand auf den roten Knopf drückt". Und um die Milliarden, die in Rüstung statt in die Gesellschaft investiert würden. Lienen engagierte sich erstmals politisch und erzählt noch heute mit der Begeisterung von damals: "Wir haben die Aufbruchstimmung gespürt, die Kraft, wenn viele Menschen ein gemeinsames Ziel verfolgen. Da war klar, dass die Politik darauf reagieren muss."
Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter
Zuerst steckte allerdings die Sowjetunion Milliarden in neue Waffen. 1977 entschied die Breschnew-Regierung, den Bestand an Atomraketen, die auf die westliche Welt gerichtet sind, zu erneuern. Alte Waffen wurden aussortiert und Hunderte der hochmodernen SS-20-Raketen an Basen in Weißrussland, der Ukraine und Sibirien stationiert.
Helmut Schmidt befürchtete ein überlegenes sowjetisches Arsenal und drängte die Nato-Partner nachzuziehen - Deutschland war mit der Lage zwischen Nato-Staaten und Ostblock das wahrscheinlichste Schlachtfeld eines möglichen Atomkrieges. Per Abschreckung sollte die Sowjetunion am nuklearen Erstschlag gehindert werden: ein "Gleichgewicht des Schreckens".
Die Nato-Antwort auf SS-20 hieß Pershing II: extrem präzise Raketen, mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit unterwegs, dazu Marschflugkörper (Cruises Missiles). Die technische Stärke der Waffen war zugleich ihr Verhängnis. Denn in den Bedrohungsszenarien änderten sich die Parameter. Bei einem nuklearen Angriff bliebe nur noch wenig Reaktionszeit - es stieg das Risiko, unter Druck bei einem Fehlalarm eine verheerende, tödliche Entscheidung zu treffen.
Der Nato-Doppelbeschluss fiel in eine Zeit eines Wandels im linken Milieu. Vor allem die Gefahren der Kernkraft trieben Demonstranten auf die Straße, etwa gegen das geplante Atommülllager in Gorleben, den AKW-Bau in Wyhl und Brokdorf. Eine "Neue Linke" verband gesellschaftspolitische Ideale der 68er mit ökologischem Bewusstsein und der Sorge um den Fortbestand der Menschheit.
"Mehr als einmal kann man sich nicht umbringen"
Die frühen Achtzigerjahre waren eine Ära düsterster Zukunftsvisionen. Die Angst vor einer atomaren Apokalypse wurde in Deutschland zum alles überragenden Thema mitunter hysterisch geführter Debatten. Sie hinterließ tiefe Furchen, spaltete die Gesellschaft - und einte zugleich völlig unterschiedliche Gruppen. So trafen in frisch formierten Bürgerinitiativen linksradikale Aktivisten auf evangelische Pastorinnen, jäh politisierte 16-jährige Schüler auf pensionierte Ingenieure.
Gemeinsam malten sie Friedenstauben auf Transparente für den nächsten Ostermarsch und sprühten pazifistische Parolen an die Wände, interpretierten militärische Strategiepapiere, beugten sich über Karten mit Waffenstandorten in Ost und West - Raketenzählerei für Anfänger und Fortgeschrittene. Alle waren überzeugt: Ein Dritter Weltkrieg, ausgelöst durch die Kalten Krieger, wäre gewiss der letzte.
Mit den Grünen, bald auch bei Wahlen erfolgreich, bekam die Umwelt- und Friedensbewegung einen starken parlamentarischen Arm. Und dass der Bundeskanzler sowohl die Kernenergie als auch den Doppelbeschluss vehement forcierte, bedeutete eine Zerreißprobe für die SPD. Helmut Schmidt wurde zum Feindbild der außerparlamentarischen Linken wie auch für Teile der eigenen Partei.
Oskar Lafontaine war Anfang der Achtzigerjahre Saarbrückens SPD-Oberbürgermeister und sagt, viele Sozialdemokraten hätten die sicherheitspolitische Strategie Schmidts von Anfang an kritisiert. Der prominenteste Gegner des Kanzlers war sein Vorgänger - Willy Brandt. "Als Parteivorsitzender hat er natürlich versucht, Schmidt nicht zu hart anzugehen. Aber es war klar, dass er aufseiten der Gegner der Aufrüstung stand", sagt Lafontaine. Später trat Brandt auch als Redner bei Friedenskundgebungen auf.
Lafontaine zählte neben Erhard Eppler zu den lautstärksten Sprechern der innerparteilichen Opposition: "Wir hielten die Gleichgewichtstheorie für überholt. Tatsache war: Wir befanden uns im Zeitalter der totalen Überrüstung. Wie viele Raketen wir auch aufstellen würden - mehr als einmal kann man sich nicht umbringen."
Reagans morbide Scherze
Der Doppelbeschluss hatte eine zweite Dimension: Rüstungskontrolle durch Verhandlungen. Dazu wollte die Nato die UdSSR drängen. Doch der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Weihnachten 1979 beendete alle Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung. Noch bevor die erste Pershing-II-Rakete in Europa aufgestellt wurde, spielte man im Weißen Haus nun mit dem Gedanken eines Erstschlags. Als der Republikaner Ronald Reagan dort 1980 den Demokraten Jimmy Carter ablöste, verschärfte sich der Ton zwischen den USA und dem "Reich des Bösen", wie der neue US-Präsident die Sowjetunion bezeichnete.
Vor allem sein loses Mundwerk ließ die Linke erschaudern. Ex-Schauspieler Reagan pflegte einen Hang zu skurrilen Scherzen. Soeben habe er Russland für vogelfrei erklärt, "wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten", verkündete er 1984 - aus Jux, doch in Moskau lachte niemand. Im Westen wuchsen die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des früheren Westernhelden, der im Jahr zuvor schon fantastische Pläne für eine Raketenabwehr im Weltall (SDI alias "Star Wars") vorgestellt hatte. Reagan wollte die Sowjetunion durch militärische Übermacht bezwingen, statt das Gespräch zu suchen. "Er sprach offen vom Totrüsten", sagt Lienen, "das war in einer eigentlich aufgeklärten Welt eine Ungeheuerlichkeit."
In diesem Klima rief ein breites Bündnis 1981 zur großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten auf; zu gigantischen Demos kam es auch in Amsterdam, Brüssel oder Den Haag. Und allein am 22. Oktober 1983 protestierten in Deutschland 1,3 Millionen Menschen.
Das Ende der Regierung Schmidt leiteten indes nicht linke Sozialdemokraten wie Lafontaine oder Eppler ein, sondern der Koalitionspartner: Am 7. September 1982 traten alle FDP-Minister zurück. Der damalige Innenminister Gerhart Baum sagt heute, die Proteste hätten auch Teile der Liberalen beeindruckt, vor allem den linksliberalen Bürgerrechtsflügel, dem er selbst angehörte. Letztlich habe ihn Außenminister und Parteichef Hans-Dietrich Genscher von der Richtigkeit des Doppelbeschlusses überzeugt: "Es war ein wichtiges Element von Genschers Strategie, die Sowjetunion zu einem Umdenken zu bewegen."
"Wir haben die Sowjets niedergerüstet"
Den Rückhalt, den die Liberalen ihrer Spitze gaben, habe man bei Schmidt und den Sozialdemokraten nicht gespürt, so Baum - einer der Beweggründe, warum die FDP sich zurückzog. Diesen Bruch hätten letztlich aber nicht die außenpolitischen Strategen initiiert: "Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff war es, der das Ende der Koalition wollte. Genscher war phasenweise in seinem Schlepptau." Lambsdorff formulierte im "Scheidungspapier" die wirtschaftspolitischen Forderungen der FDP: Die klare Absage an den sozialliberalen Kurs bedeutete ein Regierungsangebot an die Union.
Die FDP wurde fortan als "Umfallerpartei" geschmäht und Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt, das erste geglückte in der Geschichte der Bundesrepublik. Als neuer Kanzler hielt Helmut Kohl am Nato-Doppelbeschluss fest und setzte ihn auch um: Im November 1983 beschloss der Bundestag, Pershing-II-Raketen in Deutschland zu stationieren. Bis 1986 wurden so 108 Raketen auf Kasernen in Baden-Württemberg verteilt, trotz aller Proteste und Sitzblockaden; hinzu kamen rund 300 Cruise Missiles in West- und Südeuropa.
Derweil wandte sich die SPD vollends gegen den Nato-Doppelbeschluss. Beim Kölner Parteitag 1983 trugen nur noch 14 von 400 Delegierten den Kurs ihres Ex-Kanzlers mit. 1988 sollte Helmut Schmidt selbst resümieren, sein Eintreten für den Doppelbeschluss habe ihn die Kanzlerschaft gekostet.
Trotz der vollzogenen Stationierung glaubt Oskar Lafontaine, die Friedensbewegten hätten ihr Ziel erreicht: "Wir haben das politische Klima verändert. Statt über Aufrüstung und Abschreckung wurde über Abrüstung und Frieden diskutiert. Die Friedensbewegung trug wesentlich dazu bei, dass Rüstungsbegrenzungs-Verträge geschlossen wurden." Tatsächlich entspannte sich das Verhältnis des Westens zur Sowjetunion unter Michail Gorbatschow. Mit dem INF-Vertrag vom Dezember 1987 vereinbarten USA und UdSSR, alle Mittelstreckenraketen zu vernichten; erst Donald Trump kündigte im vergangenen August den Vertrag wieder auf.
Gerhart Baum wertet das amerikanisch-russische Tauwetter der späten Achtzigerjahre ganz anders als Lafontaine. Der Nato-Doppelbeschluss, die Strategie Schmidts und Genschers hätten letztlich Wirkung gezeigt, sagt er heute - "böse ausgedrückt: Wir haben die Sowjets niedergerüstet".
Mitarbeit: Jochen Leffers