Das Bier am Abend, der Sekt zum Brunch, der Cocktail bei der Party. Alkoholische Getränke sind aus vielen Situationen kaum wegzudenken. Warum müssen sich Menschen, die hingegen nüchtern leben möchten, andauernd dafür rechtfertigen?
„Wir sind in Deutschland
in so einer Trinkkultur, wo es halt dazugehört. Und jeder, der sich dem
entziehen möchte, oder das einfach abzulehnen, das ist halt einfach in
einer Kultur, wo es dazugehört, wahnsinnig schwierig.“ Isabella
Steiner ist Mitbegründerin eines alkoholfreien Geschäfts in Berlin. Mit
diesem Angebot möchte sie die Pflicht zum Rausch brechen: „Dieses Alkoholfrei-Thema hat halt auch diesen Langweilerruf und
zerstört ja eigentlich fast den Abend. Es gibt Leute, die sind
hochpersönlich beleidigt, wenn man jetzt beim Dinner nicht das Glas Wein
trinkt oder bei der Hochzeit mit dem Champagner anstößt.“
Limo
statt Bier – weshalb müssen sich Menschen, die ohne diagnostizierte
Suchtproblematik abstinent sind, für ihre Entscheidung so oft
rechtfertigen? Der Politikwissenschaftler und Soziologe Robert Feustel
hat für den gesellschaftlichen Druck eine einfache Erklärung. Er hält
den Wunsch nach dem Rausch für ein grundlegendes menschliches Bedürfnis: „Es gab immer Drogenerfahrung, es gab immer exzentrische Zustände,
immer Überschreitungsmomente. Das ist aber auch ein Stück weit trivial,
weil wenn wir versuchen, den Blick umzukehren: Was wäre die andere
Möglichkeit? Eine rein vernünftige, logische, sachliche Welt? So ist der
Mensch einfach nicht gebaut.“
Der Einstieg in die Nüchternheit
Da
der Weg in die Nüchternheit vielen nicht nur deshalb schwerfällt, gibt
es eine Menge von Blogs, Ratgebern, Influencern und Videotagebüchern,
die helfen sollen. Denn der Einstieg sei am schwersten, sagt Christiane
Hartl. Sie ist sogenannte Sobriety Coach – das heißt, sie begleitet
Menschen bei ihrem Weg in ein nüchternes Leben. „Bei mir war
das so: Ich bin morgens aufgewacht und hab gesagt: ´Och ja, heute
trinkst du mal nicht.` Bis mittags hat das auch geklappt, aber
nachmittags habe ich dann doch die Flasche Wein aufgemacht. Ich hatte
ständig ein Problem, mein Unterbewusstsein hat mit dem Bewusstsein
gekämpft. Das Bewusstsein hat gesagt: ´Alkohol schadet dir, das tut dir
nicht gut.` Und dieser ständige Kampf ist wahnsinnig anstrengend, der
erfordert halt unheimlich viel Energie. Und ich konnte auch vier oder
fünf Tage auf Alkohol verzichten, aber mein ganzer Tagesablauf hat sich
um diesen Wein strukturiert. Und das wollte ich nicht mehr.“
Hartl geht es nicht um Suchttherapie. Es geht um die Grauzonen zwischen
Alkoholismus und gelegentlichem Rausch, um Alkohol als Teil täglicher
Routinen. Mit einer guten Strategie könnten Menschen laut Hartl nicht
nur eine kurzfristige alkoholfreie Phase erleben, sondern langfristig
ihr Verhältnis zum Alkohol ändern. Das ist auch zentrales Anliegen der
Sobriety-Bewegung, zu der sie gehört: „In Amerika, wie auch
jetzt hier in Deutschland, will man einfach darauf aufmerksam machen,
dass Alkohol genauso eine Droge ist wie Kokain, Cannabis, Heroin. Also
dass man gesagt hat ´Ein Gläschen für die Frauen und zwei Gläser für den
Mann`, das macht man einfach nur, damit man vielleicht den Leuten noch
sagt: ´Ja, ein Glas geht noch.` Aber jedes Glas ist
gesundheitsschädlich. Wenn man jetzt sagt, man raucht nicht mehr, heißt
es: ´Oh super, du hast es geschafft!` Aber wenn ich sage, ich habe
aufgehört zu trinken, heißt es: ´Oh, hattest du ein Problem? War es so
schlimm?` Also man muss sich da schon rechtfertigen.“
Ein Kiosk mit alkoholfreiem Wodka
Deshalb haben Isabella Steiner und Katja Kauf in Berlin-Kreuzberg einen Laden eröffnet, in dem sie das komplette Sortiment einer Bar zum Kauf anbieten – aber eben alkoholfrei. Über 200 Getränkealternativen gibt es hier: Gin, Wodka, Whiskey, Rum, Tequila, Weiß- und Rotwein, Sekt und Bier. „Ich glaube, es ist eine Lösung, zu wissen: Ah okay, ich habe einen schönen Pinot Grigio im Kühlschrank stehen, da kann ich auch drei Gläser trinken und danach bin ich aber nicht kaputt, hab mich nicht geschädigt und hatte aber eine schöne Zeit. Und die sieht genauso hochwertig aus und schmeckt gut und riecht auch gut.“
Da aber auch Getränke
mit dem Label „alkoholfrei“ noch maximal 0,5 Prozent Alkohol enthalten
dürfen, richtet sich das Angebot eher nicht an Menschen mit
Suchtpotenzial oder -problematik. „Leuten, die ein Problem
hatten oder haben, empfehlen wir es aber nicht, weil es sehr rituell
ist, Trinken, wie man die Flasche Bier aufmacht, das Geräusch vom
Ploppen vom Schaumwein. Da ist Restalkohol drin und das triggert halt
einfach.“
Im nächsten Schritt soll ein professioneller Vertrieb
für Restaurants folgen, die alkoholfreie Alternativen auf ihre Menüs
setzen wollen. Steiner sieht hier Parallelen zur Normalisierung
vegetarischer und veganer Gerichte auf Speisekarten, die vor zehn Jahren
noch eine Seltenheit waren und gerade in Großstädten wie Berlin heute
zum Standardangebot gehören. Vielleicht ist nüchtern zu leben also die
nächste Bewegung, die unsere Konsumgewohnheiten langsam, aber nachhaltig
verändern wird.
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