Stipsits gesellt sich damit in eine mittlerweile recht lange Reihe Prominenter, die aufgrund eines sich ankündigenden oder akuten Burn-Outs einen vorübergehenden oder dauerhaften Rückzug ankündigen. Erst diesen April begründete der damalige Gesundheitsminister seinen Rücktritt aus dem Ministeramt mit seiner Überarbeitung. Vor zehn Jahren sei er im Burn-Out gelandet, ein erneutes Ausbrennen wolle er vermeiden, deshalb ziehe er sich aus dem politischen Geschäft zurück. So wichtig dieser Rückzug in seiner Vorbildwirkung bezüglich der Anerkennung psychischer Gesundheit war, so ungewöhnlich war er doch für einen Spitzenpolitiker. „Ich kann nicht mehr", oder wie Stipsits es formulierte „Mir ist die Kraft ausgegangen" ist ein Ausmaß an Verletzlichkeit, das in der Spitzenpolitik, vor allem in der Figur von in der Spitzenpolitik tätigen Männern, selten anzutreffen ist.
Mit der Thematisierung der eigenen psychischen Verfassung, dem Zeigen angeblicher Schwäche, konterkarieren Männer in der Öffentlichkeit patriarchale Vorstellungen von Männlichkeit. Glücklicherweise ist das im Kabarettistenfach nicht ganz neu: Viktor Gernot litt 2013 an einem Burn-Out, Manuel Rubey berichtet in seinem Buch „Einmal noch schlafen, dann ist morgen" (ein Satz, der für mich in meinen schweren depressiven Phasen wie eine gefährliche Drohung geklungen hätte) offen über seine Depressionen.
Burn-out als Grund für RückzugeWas allerdings auffällt: „Burn-Out" scheint als Grund für Rückzüge immer noch leichter besprechbar zu sein als andere psychische Erkrankungen. Das ist vermutlich kein Zufall: So ist Burn-Out doch in der landläufigen Klischeevorstellung die einzige psychische Erkrankung, die sich aus besonderer Betriebsamkeit und besonderem Fleiß ergibt. Man ist nicht bloß sinnlos depressiv, nein, man ist ausgebrannt weil man brav war. Ein Burn-Out gefällt neoliberalen Vorstellungen von Produktivität besser als so eine schnöde Depression oder Angsterkrankung. Burn-Out bekommt man nicht unverdient oder vererbt wie Schizophrenie. Burn-Out muss man sich tüchtigst selbst erarbeiten. Burn-Out ist etwas für richtige Leistungsträger, die nur ein bisschen zu viel geleistet haben. Burn-Out ist ein neoliberaler Gute-Nudel-Stern. Als langweilige Depressive fühle ich mich fast schlecht: Ich habe meine Depression nicht erarbeitet, sie ist mir einfach ganz unverdient in den Schoß gefallen. „Ich will nicht mehr leben und weiß nicht warum" oder „Ich bin permanent müde" oder „Ich bin traurig, aber es gibt keinen Grund" oder „Ich kann keine Freude empfinden" sagt sich schwerer als „Ich habe zuviel gearbeitet". Nicht die Energie zu haben aufzustehen und Zähne zu putzen fühlt sich gerechtfertigter an wenn es ein „nicht mehr" ist - ein Nicht-Mehr-Können nach einem Zuviel.
Aber: Gut, dass wir über Burn-Out reden. Gut, dass Thomas Stipsits über sein Burn-Out redet. Er und viele andere tragen zu einer Entstigmatisierung bei, dazu, dass, um es mit seinen Worten zu sagen „psychische Krankheiten genauso wertig behandelt werden wie alle anderen." Das ist dringend notwendig, denn auch in Österreich gibt es viele Betroffene. In einer Studie des Sozialministeriums, die 2016 durchgeführt wurde befinden sich 19% der Österreicher_innen in einem „frühen Problemstadium" eines Burn-Outs, 17% in einem Übergangsstadium und 8% sind akut krank. Weitere 4% sind rein depressiv. Wohlgemerkt: diese Zahlen stammen aus der Prä-Corona-Zeit. Vor allem die Zahlen an Angsterkrankungen und Depressionen sind in den letzten zwei Jahren bekanntlich massiv angestiegen. Schon 2017 aber waren die Ergebnisse alarmierend. Nur 52% der Befragten wurden nämlich als „gesund" klassifiziert. Das weist - eindringlich - darauf hin, dass es nicht ausreicht, über psychische Erkrankungen zu sprechen, sondern auch darüber, was uns krank macht und welche systemischen Bedingungen zu Erkrankungen führen.
Über Behanldung sprechenStipsits ist allerdings nicht nur sein Sprechen über seine Erkrankung hoch anzurechnen, sondern auch das Sprechen über deren Behandlung. Als er vor Kurzem wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrte sprach er über seinen sechswöchigen Aufenthalt in einer Waldviertler Reha-Klinik (wäre er ein Jahr zuvor dort gewesen, hätten wir uns als Patient_innen getroffen). Oft ist die Inanspruchnahme von Hilfe mit einer zusätzlichen Hürde verbunden, vor allem für Männer. Vorbilder wie Rudolf Anschober oder Thomas Stipsits oder Manuel Rubey, die aufzeigen, dass man(n) nicht nur stark sein und ertragen muss, sondern dass es in Ordnung ist, sich Hilfe zu suchen, sind hier also dringend notwendig.
Das bringt uns, neben der Hierarchisierung von psychischen Erkrankungen, zum zweiten Problem: Um einen Platz in einer Reha-Einrichtung, die auf psychische Erkrankungen spezialisiert ist, wartet man im Regelfall ein Jahr. Mindestens. Auf stationäre Therapie mehrere Monate. Die akutpsychiatrischen Stationen sind überfüllt. Die Kassen-Therapieplätze sind streng kontigentiert - und das Kontingent ist im Regelfall leer. Um es kurz zu machen: Menschen in der öffentlichen Arena können tagein tagaus dafür plädieren, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie kann allerdings nicht in Anspruch genommen werden, wenn sie nicht zur Verfügung steht. Oder nur jenen, die es sich leisten können, dafür tief in die Tasche zu greifen.
Entsigmatisierung ist wichtig, zweifellos. Auch wichtig wäre es, im öffentlichen Diskurs die Kurve von individuellen Betroffenheitserzählungen hin zur Analyse von Systemlücken zu kriegen. Weg vom Individuum, hin zur Reform des Gesundheitssystems, sodass alle die Hilfe brauchen, sie auch bekommen. Rasch, niederschwellig, kostenfrei.
So wie Thomas Stipsits sie bekommen hat. An der Stelle: Danke, Thomas (Ich erlaube mir das Du unter Irren). Und von Herzen alles Gute!
Du bist in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchst Hilfe? Sprich mit anderen Menschen darüber. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums. Hier sind außerdem weitere Anlaufstellen:Telefonseelsorge: 142 Rat auf Draht: 147 Notfallpsychiatrischer Dienst: 0699 18855400 Beratungshotline Psychotherapieverband: 0512561734
Psychiatrischer Notdienst Wien: 0131330 Krisentinterventionszentrum Wien: 014069595 Corona Sorgenhotline: 01 4000 53000 Krisenhilfe Oberösterreich: 07322177 Niederösterreichisches Krisentelefon: 0800202016 Krisenhotline Salzburg: 0662 433351 Psychosozialer Krisendienst Tirol: 0800 400 120 Psychiatrische Notrufnummer Kärnten Ost: 0664 3007007 Psychiatrische Notrufnummer Kärnten West: 06643009003 Notrufnummer der Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck: 050504 Sorgentelefon Steiermark: 0800221440
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