Wie gut, dass wir alle Bescheid wissen, in welchen Symptomen sich die häufigsten psychischen Erkrankungen äußern. Dass wir wissen, wann der Punkt erreicht ist, an dem wir uns selbst, oder anderen professionelle Hilfe organisieren müssen und woran dieser Punkt zu erkennen ist. Dass wir den ungefähren Unterschied zwischen kognitiver Verhaltenstherapie und Psychoanalyse kennen, zwischen tiefenpsychologischer Psychotherapie und klientenzentrierter Psychotherapie und deshalb bei der Suche nach einem Psychotherapieplatz eine informierte Entscheidung treffen können, welche Therapieschule uns am ehesten entspricht. Dass wir grob wissen, welche Klassen an Psychopharmaka es so gibt und wofür und wogegen sie eingesetzt werden. Dass wir wissen, wie wir an ambulante Psychotherapie kommen, wenn wir sie brauchen, und wie an eine stationäre Behandlung. Dass wir wissen, welche Leistungen die Krankenkassen übernehmen in der Behandlung psychischer Erkrankungen und welche nicht, und in welchem Ausmaß.
Dass wir eine Ahnung davon haben, wie wir zu reagieren haben, wenn uns eine Person ihre Suizidalität anvertraut. Oder ihr Alkoholproblem. Oder ein traumatisches Erlebnis. Und wo wir für uns und für die Person, die sich uns anvertraut, Hilfe finden. Dass wir die wichtigsten Notfallnummern (Krisenintervention, psychosozialer Dienst, Telefonseelsorge) genauso im Schlaf herunterbeten können wie die Nummern von Rettung, Polizei und Feuerwehr. Dass wir alle aufgeklärt sind darüber, wie psychiatrische Stationen von innen aussehen und deshalb keine Angst vor ihnen haben müssen. Gut, dass wir Bescheid wissen, wie wir unsere Emotionen regulieren oder Gedankenkreisen stoppen können und welche Atemübungen schlaffördernd sind. Dass wir die gängigsten wissenschaftlichen Modelle der Entstehung verschiedener psychischer Erkrankungen kennen und wissen, welche Faktoren ihre Entstehung begünstigen und wie wir, vor diesem Hintergrund, ein Stück weit selbst präventiv für unsere psychische Gesundheit sorgen können.
Ein utopisches SzenarioIch gebe zu: das ist ein utopisches Szenario. In Wahrheit weiß kaum jemand, der/die nicht professionell mit dem Thema Psyche zu tun hat, auch nur über eine der aufgelisteten Themen Bescheid. Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen sich dieses Wissen im Laufe der Zeit mühsam selbst erarbeiten, wenn sie mündige Patient_innen sein wollen. Im Rahmen von stationären Aufenthalten ist neben der multidisziplinären therapeutischen und medikamentösen Behandlung in der Regel auch Psychoedukation ein fixer Bestandteil des Therapieplanes. Falls euch das Wort nichts sagt: Psychoedukation ist die wissenschaftlich fundierte Aufklärung von Patient_innen (und oft auch Angehörigen) über ihre psychische Erkrankung und ihre Behandlungsmöglichkeiten - dazu zählt Überblickswissen über medikamentöse Behandlung ebenso wie das über unterschiedliche Psychotherapieschulen. Vermittelt wird in der Regel auch - möglichst niederschwellig - wie psychische Erkrankungen entstehen und woran sie zu erkennen sind.
Während es selbstredend wichtig ist, Patient_innen dieses Wissen zu vermitteln, stellt sich die Frage, warum dieses Vermitteln erst dann stattfindet, wenn Menschen bereits psychisch krank sind. Warum wird Psychoedukation nicht selbstverständlich präventiv eingesetzt?
Obwohl beispielsweise an höheren Schulen Psychologie unterrichtet wird (als Unterrichtsfach „Psychologie und Philosophie") fehlt dort weitgehend praktisches Wissen im Umgang mit der eigenen psychischen Gesundheit, Wissen über psychische Erkrankungen und ihre Anzeichen, Wissen über die psychische Gesundheitsversorgung in Österreich.
Kein Unterrichtsprinzip „Psychoedukation"Im österreichischen Bildungssystem sind politische Bildung, Wirtschaftserziehung und Sexualpädagogik als Unterrichtsprinzipien festgeschrieben - Themenbereiche also, die in allen Schulfächern behandelt werden sollen. Warum gibt es kein Unterrichtsprinzip „Psychoedukation", wenn doch, in Folge der Corona-Pandemie, mittlerweile 50 Prozent der Jugendlichen unter Symptomen affektiver Störungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen leiden? Warum ist nicht schon längst angekommen, dass auch an Schulen Aufklärungs- und Präventionsarbeit zu leisten ist, wenn weltweit Suizid die vierthäufigste Todesursache von 15- bis 29-Jährigen ist? Warum wissen die meisten Menschen kaum über die Symptome und Behandlungsmöglichkeiten von Depressionen Bescheid, wenn die WHO sie als „leading cause of ill health and disability worldwide" (also die weltweit häufigste Ursache für Krankheit und Behinderung) bezeichnet? Warum kennen wir alle die Symptome eines Schlaganfalls oder eines Herzinfarktes und wie diese sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich gestalten, haben aber keine Ahnung über die unterschiedliche Betroffenheit und unterschiedliche Ausprägung von psychischen Erkrankungen bei Männern und Frauen?
So sehr es mich freuen würde, wenn Leser_innen dieser Kolumne sich nach der Lektüre selbst bilden würden - um ihrer selbst Willen - so sehr halte ich Psychoedukation für eine Bildungsaufgabe von Schulen und Bildungseinrichtungen.
So lange, bis der erste Absatz dieses Textes nicht mehr staunende Verwunderung oder Beschämung angesichts des eigenen Unwissens auslöst, sondern nickend gelesen werden kann. Weil wir tatsächlich alle bestens Bescheid wissen.
„Psychische Erkrankungen betreffen uns alle"